Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Bild- und wortgewaltiger Größenwahn
„Das 1. Evangelium – frei nach dem Matthäus-Evangelium“am Schauspiel Stuttgart
STUTTGART - Das Matthäus-Evangelium gehört zur Kulturgeschichte des Abendlandes wie kein anderes Schriftwerk. Dortmunds Schauspielintendant Kay Voges hat aus der Ouvertüre des neuen Testaments jetzt einen bild- und sprachmächtigen Abend für das Stuttgarter Schauspiel entwickelt.
Kommt man am Hauptbahnhof an, stehen da plötzlich eine Frau und ein Mann. Sie halten den Ankommenden ein Schild mit der Frage entgegen: „Ist die Bibel heute noch relevant?“. Klar, möchte man ihnen zurufen, kommt doch mit ins Stuttgarter Schauspiel, da gibt es „Das 1. Evangelium - frei nach dem Matthäus-Evangelium“. Die Bibel und speziell das Matthäus-Evangelium sollten auf jeden Fall relevant sein, schließlich haben so große Künstler wie Johann Sebastian Bach und in jüngerer Zeit Pier Paolo Pasolini dem MatthäusEvangelium einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit gewidmet. Bachs „Wir setzen uns mit Tränen nieder“zur Grablegung des gekreuzigten Christus, das Pasolini wiederum als Leitmotiv für seinen Film verwendet hat, kommt als Erstes in den Sinn und wird auch von Kay Voges’ gleich zu Beginn des Abends wie ein choraler Weckruf eingesetzt.
Zuerst einmal meint man beim Betreten des Stuttgarter Schauspielhauses aber in eine Kathedrale einzutreten. Die Luft ist Weihrauch geschwängert und der Zuschauerraum in mattrotes Licht getaucht. Gleich, so denkt man, darf man hier die heilige Kommunion empfangen. Voges beginnt dann aber doch ohne Zögern mit einem linearen und wie im Zeitraffer getunten Nachvollzug des Matthäus-Evangeliums. Nach der Verkündigung „Im Anfang war das Wort ...“folgt postwendend Jesu’ Stammbaum: „Abraham zeugte Isaac, und Isaac zeugte Jakob ...“bis hin zu Josef, dem Mann von Maria.
An dieser Stelle setzt Voges einen harten Schnitt. Wir sehen Christi Geburt live und auf diversen Videoscreens. Maria (Marietta Mequid) kommt in einem heruntergekommenen Wohnwagen nieder. Als Josef die Nabelschnur durchschneidet, ruft ein Filmregisseur plötzlich „Cut“. Kay Voges wechselt erneut die Spielebene.
Der Abend gelangt ziemlich schnell an den Punkt, von dem aus das Matthäus-Evangelium erzählt wird. Wir sind mitten in den Dreharbeiten eines B-Movies mit einem Paul Grill als Regisseur, der die Schauspieler wie Hobbysportler durch das erste Evangelium peitscht. Bühnenbildner Michael SieberockSerafimowitch hat auf die Drehbühne ein Rondell mit ganz unterschiedlichen Spielkammern gebaut. Das dreht sich permanent und präsentiert die immergleichen Kammern, in denen nach jeder Drehung aber immer wieder neue Erzählschnipsel des Matthäus-Evangelium zu sehen sind. Julischka Eichel etwa kann immer und überall auftauchen, schließlich ist sie ein von seiner Mission beseelter Jesus und gleichzeitig die Freundin des B-Movie-Regisseurs.
Voller Selbstironie
Da ist aber auch ein American Diner, in dem der Brudermord Kains an Abel verhandelt wird. In einer anderen Kammer sieht man Nachstellungen ikonografischer Bilder wie das der Pietà. Gelegentlich meint man in Monthy Pythons „Das Leben des Brian“und nicht selten in einem Abend von Frank Castorf gelandet zu sein. Letzteres hat damit zu tun, dass Kay Voges die Spielsituationen auf der Drehbühne mit Videobildern mischt, die von einer live filmenden Crew beigesteuert werden. Es hat aber auch mit Holger Stockhaus zu tun, der immer wieder als Produzent auftaucht und eine derart lässige Wildwestromantik ins Spiel bringt, dass Castorf persönlich anwesend zu sein scheint.
Am Ende spielt Stockhaus den Pontius Pilatus und gibt dem Regisseur des B-Movie, also Paul Grill, zu verstehen, lediglich Ingmar Bergmann und Pier Paolo Pasolini wüssten, wie man Kino macht. Was hier auf der Bühne des Schauspielhauses gerade stattfinde, sei doch ziemlicher Schwachsinn. Einmal mehr nimmt der Theatermacher des Abends sich selbst auf den Arm.
Man sollte aber davon ausgehen, dass Voges zwar seine eigenen ästhetischen Setzungen ironisch unterwandert, es vor allem aber dann ziemlich ernst meint, wenn er zu Protokoll gibt: „Religiöse Motive und Fragestellungen tauchen immer wieder in meinen Inszenierungen auf. Aus der Perspektive des Zweiflers, der doch eigentlich verstehen will, was die Welt so im Innersten zusammen hält.“
Nachlesen kann man das im Programmheft, hat zuerst aber einmal genug damit zu tun, all die kaleidoskopischen Querverweise zur Kenntnis zu nehmen, die in die Stuttgarter Überschreibung des Matthäus-Evangeliums eingebaut wurden. Zweieinhalb Stunden dauert das Ganze und ist ein derart bild- und sprachmächtiger Größenwahn, dass man sich ihm liebend gerne hingibt.
Weitere Aufführungen am 24. und 29. Januar, 2., 8., 17. Februar, 4., 28. und 29. März. Karten unter www.schauspiel-stuttgart.de oder Telefon 0711/20 20 90.