Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Der Alpen-Ballermann
Der Tiroler Wintersportort Ischgl ist die Partyhochburg der Skiszene, aber die Trinkexzesse nerven die Einheimischen zunehmend
ISCHGL - Der junge Deutsche nennt sich Davy, schwankt in seinen Skiklamotten beträchtlich durch die Nacht und will unbedingt die Arme um irgendeinen legen. Dumm, wenn man ihm im Weg steht. Davy greift beglückt zu und lallt: „Ey, Ischgl ist so cool.“Sein Atem verrät zu viel Bier mit einem starken Nachklang aus Williams-Christ-Brand. Bei einem beträchtlichen Teil des Publikums, das sich gegen acht Uhr abends durch die Dorfstraße des Tiroler Wintersportorts kämpft, dürfte die Fahne und der Zustand ähnlich sein. Stundenlanges ungehemmtes AprèsSki-Treiben zeigt seine Wirkung. Ischgl ist für diese Partys nach Pistenschluss legendär. Sie haben dem 1600-Seelen-Ort in manchen Kreisen den Ruf eines Alpen-Ballermanns eingebracht – ganz nach dem Vorbild von Mallorca.
Platt ausgedrückt bedeutet dies: Kampftrinken von Männercliquen, die sinnentleerte Lieder wie „Aua im Kopf“grölen und sich in grobschlächtigem Techtelmechtel üben. Für die Wirte rollt der Rubel. Doch ganz so glücklich sind Ischgls Bürger, Hoteliers und Fremdenverkehrsprofiteure nicht mehr. „Das Maß ist voll. Die Betrunkenen pöbeln die anderen Gäste an, urinieren auf die Straße und übergeben sich in der Öffentlichkeit“, schimpfte Andreas Steibl, Geschäftsführer des Tourismusverbandes Paznaun-Ischgl, bereits vor eineinhalb Jahren vor Tiroler Journalisten.
Das Problem: Der Ort hat sich seit den 80er-Jahren als angesagteste Après-Ski-Hochburg positioniert und will es auch bleiben. Gleichzeitig sieht sich Ischgl als „hochpreisiger Wintersportort“. Er zieht die Massen an und den Geldadel. An machen Tagen sind 20 000 Gäste da. Ischgl hat die größte Dichte an Vierund Fünf-Sterne-Hotels in Österreich. Gleich sieben teure Restaurants sind vom Gastronomieführer Gault-Millau ausgezeichnet. Tourismus-Boss Steibl spricht deshalb von „einem hochwertigen Ambiente“. Dies lässt sich auch im Skigebiet oberhalb von Ischgl beobachten: moderne Seilbahnen und sorgfältig präparierte Pisten. Dazu noch die Möglichkeit, in den zollfreien Schweizer Ort Samnaun abzufahren und dort in Hochglanzläden günstig eine Rolex zu erwerben.
Eine über die Maßen gesteigerte Anzahl abgefüllter Après-Ski-Chaoten könnte das edle Bild versauen. Um Auswüchse einzudämmen, hat Ischgl bereits vor der vergangenen Wintersportsaison spezielle Regeln erlassen. So ist das Rumtrampeln mit Skistiefeln in den Gassen nach acht Uhr abends bei Strafe verboten. Auch Wildpinkler müssen tief in die Tasche greifen.
Zweierpatrouillen einer Sicherheitswacht des Dorfes kontrollieren angestrengt, dass sich niemand zu sehr danebenbenimmt. Ein harter Job, wenn rundherum das Leben pulsiert. Ischgl-Veteranen meinen sowieso, dass sich nichts geändert habe. Der Ort bedeute eben Party – was immer man darunter versteht. „Klar, wir sind zum Festen hier“, berichtet Daniel Weber aus der Gegend von Luzern in der Zentralschweiz. „Was sonst?“Mit fünf Kumpels umringt er einen Stehtisch vor der urig wirkenden Skihütte Paznauner Thaya im westlichen Pistenbereich. Musik dröhnt aus Lautsprechern: „Schatzi, schenk mir ein Foto ...“Die Gruppe hat ihre Skier bereits vor einer Stunde abgeschnallt und widmet sich seitdem mit großer Hingabe dem Leeren von Weizenbieren und Jägermeister-Fläschchen. Dabei ist es gerade mal zwölf Uhr mittags. Wie das ausgeht, will man gar nicht so genau wissen.
Wobei das Skigebiet selber gar nicht so viele Pistenlokale fürs Halligalli-Trinken hat. Es wirkt überwiegend ruhig. Da geht es etwa auf Söldener Abfahrten abgedrehter zu. Letztlich schlägt Ischgls Partystunde erst, wenn die Seilbahnen stehen: am späten Nachmittag ab vier Uhr. Die Schweizer Minigruppe aus der Thaya-Hütte hat auch schon ausgemacht, wo sie sich den Rest geben will, sollte dies nötig sein: „In der Schatzi-Bar.“Ein Begriff in der Welt der Après-Ski-Enthusiasten.
Das Lokal befindet sich praktischerweise vis-à-vis von der Talstation der Pardatschgratbahn und am Ende einer Talabfahrt. Es nimmt das Erdgeschoss des Fünf-Sterne-ArtHotels Elizabeth ein. Nicht, dass in der Schatzi-Bar das Bier besser oder billiger als anderswo wäre. Der spezielle Anziehungspunkt sind Mädels, Go-go-Girls. In engen Tops und Minimalröcken im Dirndlstil tanzen jeweils vier oder fünf auf der langen Theke. Eigentlich hampeln sie mehr herum. Dem Publikum gefällt’s. Männer stecken Geldscheine in den Ausschnitt, in den Rocksaum oder das Strumpfband. Die Glücklichen unter ihnen bekommen einen Dankesschmatzer auf die verschwitzte Backe. Weniger Glückliche versuchen mit glasigen Augen einen Blick unter den Rock zu erhaschen. Passend dazu tönt die Musik mit Tönen wie „Uuh, ah, uuh, ah“.
„Man muss aber dazu sagen, dass ein solches Partytreiben nicht der allgemeine Trend in österreichischen Skigebieten ist“, erklärt Peter Zellmann. Der Professor leitet das Institut für Freizeit- und Tourismusforschung in Wien. Nebenbei ist er regelmässig Gast in Ischgl. Auch hier am Ort sei Party wirklich nur ein Teil des Geschehens. Zellmann stellt fest: „Undenkbar jedoch, dass es anderswo eine solche Ballung von AprèsSki-Hotspots gibt.“Die Gemeinde müsse aber nun wenigstens etwas die Bremse anziehen. Wobei sich die Frage stellt, wer eigentlich über die Stränge schlägt? Es könnten Kegelclubs sein, sonstige Vereinsgruppen oder Freundescliquen, antwortet der Professor. Schwierig seien aber auch gerne Tagestouristen, die mit dem Bus kommen: „Die trinken dann mit aller Gewalt bis zur Abfahrt.“
50 bis 60 Körperverletzungen
Die örtlichen Gendarmen formulieren dies zurückhaltend: „Die Gäste feiern zum Teil ausgelassen.“Darunter sind aber naturgegeben immer einige, denen der Alkohol viel Körperkraft verleiht, sich gleichzeitig aber sehr negativ auf die Geisteskraft auswirkt. Laut Polizeimeldungen ziehen Betrunkene ihren Kontrahenten durchaus mal eine Flasche über den Kopf. Im Schnitt kämen in der Wintersaison rund 50 bis 60 Körperverletzungen zusammen – plus circa 40 Sachbeschädigungen, heißt es von der Landespolizeidirektion. Sie beruhigt aber sofort: „Das ist in anderen vergleichbaren Skiorten Tirols auch nicht unverhältnismässig weniger.“Mag sein. Jedenfalls läuft die Partymaschinerie zuverlässig.
Bemerkenswerterweise halten es auch weibliche Gäste in den Dröhnbuden des Après-Ski-Geschäfts aus. Inge Wagner und Karin Meixerberger haben sich sogar in der SchatziBar eingefunden. Die beiden stammen aus Furth im Wald an der tschechischen Grenze. Geschätztes Alter: auf die 40 zugehend. Männliche Begleitung fehlt. Die Frauen wollen dies nicht kommentieren, sagen aber: „Jetzt schlagen wir uns erst einmal durchs Nachtleben. Die Stimmung in Ischgl ist einfach besser als anderswo.“Wobei vor Ort nicht unbedingt klar ist, welche der zahlreichen Après-Ski-Kneipen wirklich die Beste für einen ist. „Nö, die Schatzi-Bar ist nicht unser Stil“, meint der vom Mittelrhein stammende Jürgen Albrecht im Namen von vier Freunden im Vorfeld des Go-go-Girl-Lokals. „Zu proletenhaft.“
„Die trinken dann mit aller Gewalt bis zur Abfahrt.“Peter Zellmann, Leiter des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung Wien, über die Tagesgäste.
Diese Clique gesetzteren Alters zieht zur Champagnerhütte auf der anderen Seite des Ortes weiter, einem Etablissement, das als gehobene Tränke gilt. Entsprechend kostspielig können die Getränke sein, sollte es über das Übliche hinausgehen. Fünfstellige Summen für eine Magnumflasche Schaumwein sind drin. Normaltrinkern vergeht da schnell der Durst. Zu dieser finanziell eher eingeschränkten Gästekategorie scheinen einige Münchner Herrschaften auf dem Außenbalkon der Champagnerhütte zu gehören. Sie schlürfen Lugana-Weißwein und feixen, dass „unsere Angetrauten nicht wissen, wo wir hingefahren sind“. Dazu spielt der Discjockey der Kneipe: „Ein Hoch auf uns“von Andreas Bourani. Dies klingt fast schon vornehm – und dürfte wohl auch dem aufs Ischgler Image bedachten Bürgermeister Werner Kurz besser gefallen als das „Uuh, ah“in der Schatzi-Bar. Wobei er gegenwärtig zufrieden ist: „Es gibt keine Grenzüberschreitungen bezüglich Après-Ski. Die Problematik liegt im Verhalten mancher Gäste. Die Maßnahmen wie das Skischuhverbot haben sich sehr bewährt. Weiteres ist momentan nicht geplant.“
Wankt man aber von der Champagnerstube zum nahen volkstümlichen Kuhstall weiter, sind die Exzesse plötzlich wieder ganz nah. Hier singen die Zecher lautstark: „Sie hatte nur noch Schuhe an“– eindeutig ein Lied mit der Aufforderung zum sündigen Tun. Der arme Kerl, der unten im Klo die Schüssel umarmt, kann sich aber kaum mehr rühren. Das Getrunkene will wieder heraus. Zwischen den Würgereizen fordert er vom wartenden Kumpel: „Bring mich heim. Ich bin fertig.“Draußen ist es gerade dunkel geworden. So schnell kann ein Partytag zu Ende gehen. Auf die geschrumpfte Schar, die tapfer durchhält, warten dagegen noch viele Discos und Nachtlokale.
„Klar, wir sind zum Festen hier. Was sonst? Ischgl-Gast Daniel Weber aus der Gegend von Luzern