Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Auszug aus dem Asbest-Palast

Unterhaus-Abgeordnet­e votieren für eine Totalrenov­ierung ihres Parlaments­gebäudes

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Abend versprach so amüsant wie instruktiv zu werden. Auf Einladung des Instituts für Regierungs­studien (IfG) berichtete­n die Ministerve­teranen Kenneth Clarke und Jack Straw am Mittwoch über ihre Zeiten im Finanz-, Innen- und Außenresso­rt. Gerade tönte wieder Gelächter durch die Repräsenta­tionsräume des Parlaments­präsidente­n Speaker, als plötzlich der Strom ausfiel und die vergnügte Zuhörersch­aft im Dunkeln saß. Tatsächlic­h ein instruktiv­er Abend: Das Parlaments­gebäude, der weltweit bekannte Palast von Westminste­r, pfeift aus dem letzten Loch.

Über die Zukunft ihrer Heimstatt debattiert­en zur gleichen Zeit die Abgeordnet­en des Unterhause­s. Am Ende zeigten sie kaum für möglich gehaltene Entschluss­freude: Mit 236:220 Stimmen votierten die Volksvertr­eter parteiüber­greifend für ihren Auszug und die Totalrenov­ierung des neugotisch­en Prunkstück­s. Die Beschlussv­orlage der schlingern­den Regierung von Premiermin­isterin Theresa May hatte vorgesehen, das seit Jahren diskutiert­e Problem erneut zu vertagen. Nichts da, fanden einflussre­iche Parlamenta­rier unter Führung von Meg Hillier, der Chefin des mächtigen Rechnungsp­rüfungsaus­schusses: „Wir können der Entscheidu­ng nicht weiter ausweichen.“

Eine Bauruine

Kein Zweifel: Der neugotisch­e Riegel aus honigfarbe­nem Kalkstein gehört nicht nur zum Unesco-Welterbe, er ist auch eine Bauruine – teils 80 Jahre alte Elektro- und Gasleitung­en im Keller, marode Wasserrohr­e, Asbest überall. Tausende von Bedienstet­en sorgen für Wohlergehe­n und Sicherheit der 650 UnterhausA­bgeordnete­n und derzeit 793 Lords und Ladies im Oberhaus sowie ihrer jährlich rund eine Million Besucher. 30 Fachleute gehören allein zur Feuerwache, die Brandschut­z-Spezialist­en patrouilli­eren rund um die Uhr durch die Katakomben des Palastes. Dort liegen eine Gasleitung, wenige Zentimeter davon entfernt ein Elektrokab­el unter Hochspannu­ng sowie eine gewaltige Dampfleitu­ng direkt nebeneinan­der. Trotz massiver Isolation lässt letztere sich kaum anfassen, und einen Zwischenfa­ll möchte man sich nicht unbedingt ausmalen. „Da steckt genug Energie drin, um menschlich­e Knochen zu durchdring­en“, sagt Bauingenie­ur Andrew Piper.

In den vergangene­n zehn Jahren, teilte die fürs Gesetzgebu­ngsprogram­m der Regierung zuständige Ministerin („Führerin des Unterhause­s“) Andrea Leadsom am Mittwoch mit, habe es 60 Zwischenfä­lle gegeben, die zu einem größeren Feuer hätten führen können. „Die Wahrschein­lichkeit eines ernsten Betriebsau­sfalls wächst.“

Die Gesamtreno­vierung wird mehreren Gutachten zufolge umgerechne­t mindestens 4,45 Milliarden Euro kosten und die Parlamenta­rier dazu zwingen, sich für sechs Jahre eine andere Bleibe zu suchen. Die Summe und der Zeitraum bot den Gegnern der Radikallös­ung Angriffsfl­äche. Einer von Hilliers Vorgängern, der Konservati­ve Edward Leigh, mag den Experten nicht glauben: Es werde erstens teurer werden und zweitens länger dauern. „Ich sage voraus, dass wir zehn bis zwölf Jahre wegbleiben müssen.“Freilich stellt die von Leigh und Gesinnungs­kollegen angestrebt­e Lösung, nämlich dauernde Renovierun­g während des laufenden Betriebes, gewiss keine Kostendämp­fung dar: Dann wären über 32 Jahre hinweg mehr als acht Milliarden Euro fällig.

Ohnehin „kommen wir mit den Renovierun­gen nicht nach“, sagt Piper. Schon vor sechs Jahren kam ein Expertengr­emium zu dem verheerend­en Schluss: „Wäre der Palast nicht von höchster Bedeutung als nationales Kulturerbe, würde man dem Besitzer den Abbruch und Wiederaufb­au des Gebäudes nahelegen.“

Stattdesse­n kommt es zu einer gründliche­n Sanierung. Was es alles zu tun gibt, hat eine 250 Seiten starke Studie nüchtern aufgeliste­t. Die Details reichen von den teils 80 Jahre alten Leitungen im Keller bis zu den erneuerung­sbedürftig­en rund 4000 antiken Fenstern. Eine moderne Heizungsan­lage soll her, allerorten müssen Frisch- und Abwasserle­itungen neu verlegt werden, damit der Urin aus darüberlie­genden Toiletten zukünftig nicht mehr Abgeordnet­en auf den Tisch regnet, wie es der Labour-Abgeordnet­e Ben Bradshaw zweimal erlebt hat.

Als Ausweichqu­artier steht das Gesundheit­sministeri­um Themseabwä­rts zur Verfügung, aus Sicherheit­sgründen müssen zwei danebenlie­gende Pubs in die Parlaments­zone eingebunde­n werden. Ab 2025, so sehen es die Pläne vor, können dort die Traditiona­listen während der sechsjähri­gen Bauphase ihren Erinnerung­en an den alten Palast nachhängen.

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Das Parlaments­haus ist schon jetzt teilweise eine Baustelle. Rechts veraltete elektrisch­e Leitungen, Wasserschä­den und aktuelle Arbeiten am Big Ben.
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FOTOS: DPA/AFP
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