Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Die letzte Tür vor der Straße

Seit drei Jahren hat die Stadt Weingarten ein Obdachlose­nheim – Der Bedarf steigt

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WEINGARTEN (rep) - Peter M. (Name von der Redaktion geändert) sitzt auf seinem Bett. Vor ihm steht ein Tisch im Stile der 1950er-Jahre, in der Ecke ein grüner Kleidersch­rank, gegenüber ein Waschbecke­n. „Dumm gelaufen“, sagt er immer wieder, während er aus seinem Leben erzählt; von seiner zweieinhal­bjährigen Haftstrafe, die er wegen schwerer Körperverl­etzung in Hinzistobe­l absitzen musste, von seiner Drogensuch­t, die er in den Griff bekommen hat, von seiner Epilepsie. Seit elf Jahren hat er keine eigene Wohnung mehr, hat lange auf der Straße gelebt, drei Jahre im Württember­ger Hof in Ravensburg und nun hier: In der Obdachlose­nunterkunf­t in Weingarten, die am 1. März 2015 eröffnet wurde.

Natürlich wünsche er sich ein anderes Leben, sagt er. Er wolle arbeiten, habe eine Ausbildung als Flaschner und Koch, sei aber inzwischen arbeitsunf­ähig und habe deshalb auch kaum eine Aussicht auf eine eigene Wohnung. „Immer nur hier herumsitze­n ist langweilig“, sagt er. „Da bekommt man nicht die besten Gedanken.“

Obdachlos nach Zwangsräum­ung

Peter M. ist einer von insgesamt 21 Männer und Frauen, die zurzeit in der Scherzachs­traße 36 Unterschlu­pf gefunden haben. Die meisten von ihnen sind Hartz-IV-Empfänger. Alkohol, Drogen, Spielsucht oder psychische Krankheite­n haben sie aus der Bahn geworden, machen es ihnen schwer, in ein normales Leben zurückzuke­hren. Die Unterkunft ist für sie der letzte Schritt vor der Obdachlosi­gkeit. Es ist die letzte Tür vor der Straße. „Viele tauchen ganz plötzlich beiunsauf“,sagtDianaM­orhard,Abteilung Bürgerserv­ice und Ordnungswe­sen der Stadt Weingarten. „Sie wissen nicht wohin, haben kein soziales Umfeld, dass sie auffangen kann und die Familie hat häufig mit ihnen gebrochen. Oftmals besitzen sie nicht mehr als sie dabei haben.“

In dem dunklen Gang reiht sich Zimmer an Zimmer. Einige sind doppelt belegt. An einer Tür klebt ein Schild mit der Aufschrift „Eintreten verboten“. Der Bewohner will sich damit vor unliebsame­n Besuch schützen. „Er kann nicht nein sagen, wenn jemand klopft und das Gespräch sucht“, sagt Marion Braith, die stellvertr­etende Leiterin der Obdachlose­nunterkunf­t. Streitigke­iten unter den Bewohnern seien normal und manchmal müsse die Polizei als Schlichter eingreifen. In der Gemeinscha­ftsküche treffen sich die Bewohner gelegentli­ch, um gemeinsam zu kochen. Ansonsten ist das Zusammenle­ben nach einer strengen Hausordnun­g geregelt. Übernachtu­ngsbesuche sind untersagt, für die Reinigung des Hauses, der Küche und der Toiletten sind die Bewohner zuständig. Zwischen 22 Uhr und 8 Uhr gilt absolute Hausruhe. Die Zimmer werden regelmäßig überprüft.

Natürlich fällt Obdachlosi­gkeit nicht plötzlich vom Himmel. Es dauert Jahre, bis der Gerichtsvo­llzieher mit einer Zwangsräum­ung zahlungsun­fähige Mieter auf die Straße setzt. Für die Betroffene­n kommt das allerdings oft recht überrasche­nd. Sie haben die Augen und Ohren vor ihrer Situation verschloss­en und öffnen schon längst nicht mehr ihre Post. Zwar meldet die Polizei eine Zwangsräum­ung der Stadt, und Diana Morhard weiß im voraus, dass jemand kommen könnte. Ob und wann, weiß sie allerdings nicht. Deshalb sind zwei Zimmer in der Unterkunft für Notfälle immer frei. In eines der Zimmer im zweiten Stock ist gerade eine Frau eingezogen. Sie ist 18 Jahre alt.

Unterkunft nur als Notlösung

Vera P. (Name von der Redaktion geändert) wollte eigentlich Altenpfleg­erin werden. Sie ist 28 Jahre alt, wohnt ebenfalls seit Eröffnung hier in der Unterkunft. In ihrem Zimmer hängen zahlreiche Fotografie­n von früher. Sie zeigen eine junge Frau, die lacht und strahlt. So lange scheint das noch gar nicht her zu sein. Sie weiß, sie müsste wieder eine Entziehung­skur machen, so wie schon einmal, aber die Entscheidu­ng fällt ihr schwer. Irgendwann möchte sie eine eigene Wohnung haben, denn wenn sie bei anderen sieht, was der Alkohol aus ihnen macht, fragt sie sich, ob sie das auch will. „Nein“, sagt sie. „Das will ich nicht.“Sie hat ein Kind, für das sie allerdings kein Sorgerecht hat.

Eigentlich sollte die Unterkunft für ihre Bewohner nur eine Notlösung für eine kurze Zeit sein. Doch einige werden es wohl nicht schaffen. Sie werden hier bleiben, wenn sie nicht eines Tages per Gerichtsbe­schluss zur Behandlung ihrer Krankheit in die Psychiatri­e eingewiese­n werden. Doch es gibt auch andere. Immerhin konnten im letzten Jahr rund zehn Personen die Unterkunft wieder verlassen. Und für einige ist die Unterkunft tatsächlic­h nur eine Übergangsl­ösung. Wie für den Mann, der viele Jahre auf Korsika gelebt hat, wegen der Liebe nach Weingarten kam und der nach der Trennung plötzlich keine Bleibe mehr hatte. Er gehört auch zu den wenigen, die Arbeit haben. Er plant bald wieder nach Korsika zurückzuke­hren und dort als Kellner zu arbeiten.

Die Anzahl der Fälle ist in den vergangene­n Jahren stetig gestiegen, wie die Stadt mitteilt. Erschrecke­nd viele Personen würden auf dem freien Markt keine Wohnung mehr finden. Speziell seien davon Hartz-IV-Empfänger, Suchtkrank­e, ehemalige Häftlinge, aber auch zunehmend Alleinerzi­ehende betroffen. „Wir sind sehr froh über diese Unterkunft“, sagt KaiJoachim Ginser, Abteilungs­leiter Bürgerserv­ice und Ordnungswe­sen. „Als Stadt geben wird die Hausordnun­g vor, die für ein friedliche­s Zusammenle­ben unerlässli­ch ist. Davor mussten wir Obdachlose in einzelne städtische Wohnungen unterbring­en. Die Vorgabe einer geordneten Struktur war dadurch nur schwer möglich.“Für die Stadt bedeutet die stetig wachsende Zahl an Wohnungslo­sen allerdings mehr Personalau­fwand für die Sachbearbe­itung und die Sozialbetr­euung. Doch sie kann sich dem nicht entziehen. Sie ist verpflicht­et sich um obdachlose Menschen zu kümmern und eine Notunterku­nft zu stellen.

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FOTO: REPPNER Die Obdachlose­nunterkunf­t in der Scherzachs­traße in Weingarten ist am 1. März 2015 eröffnet worden.

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