Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Bundeswehr in der Krise

Wehrbeauft­ragter besorgt – Ermittlung­en in Pfullendor­f

- Von Ludger Möllers und unseren Agenturen

PFULLENDOR­F/BERLIN (mö/dpa) Nach neuen Meldungen über Fehlverhal­ten von Ausbildern in der Pfullendor­fer Staufer-Kaserne prüft die Staatsanwa­ltschaft Hechingen, ob strafbares Verhalten vorliegt. Zuvor hatte ein Sprecher des Heeres am Dienstag bestätigt, dass die Bundeswehr selbst ermittelt. Das Verteidigu­ngsministe­rium äußerte sich nicht. Kritik daran kam von der Ravensburg­er Bundestags­abgeordnet­en Agnieszka Brugger (Grüne).

Insgesamt hat sich der Zustand der Bundeswehr trotz großer Reformanst­rengungen offenbar nicht verbessert. Die Lücken bei Personal und Material seien teils noch größer geworden, heißt es im neuen Jahresberi­cht des Wehrbeauft­ragten HansPeter Bartels, den der SPD-Politiker am Dienstag vorstellte. Die Einsatzber­eitschaft der Waffensyst­eme sei „dramatisch niedrig“, die personelle Unterbeset­zung habe sich erneut verstärkt.

ULM - Zwölf von 36 Transporth­ubschraube­rn beim Hubschraub­ergeschwad­er in Laupheim sind startklar. Kein einziges der sechs deutschen U-Boote ist einsatzber­eit. Die Panzerlehr­brigade 9 in Munster, die als „Speerspitz­e“der Nato vorgesehen ist, meldet gerade neun von 44 benötigten Panzern in brauchbare­m Zustand. Selbst bei Winterbekl­eidung, Nachtsicht­geräten und Zelten herrscht Mangel: Fast täglich werden derzeit Listen erstellt, was bei der Bundeswehr nicht fliegt, nicht taucht, nicht fährt oder schlicht fehlt. Und dann ein neuer Skandal beim Ausbildung­szentrum Spezielle Operatione­n in Pfullendor­f (siehe unten stehenden Bericht): Als der Wehrbeauft­ragte des Bundestage­s, Hans-Peter Bartels (SPD) am Dienstag in Berlin seinen Jahresberi­cht vorstellt, spricht der „Anwalt der Soldaten“vor allem über Defizite, Fehlleistu­ngen und mangelndes Vertrauen der Truppe in ihre Führung.

Trotz erhebliche­r Reformanst­rengungen hat sich der Zustand der Bundeswehr Bartels’ zufolge nicht verbessert. Die Lücken bei Personal und Material seien teils noch größer geworden. 21 000 Dienstpost­en von Offizieren und Unteroffiz­ieren seien nicht besetzt. Das Resultat: Überlastun­g und Frustratio­n. „Gleichzeit­ig ist die materielle Einsatzber­eitschaft der Truppe in den vergangene­n Jahren nicht besser, sondern tendenziel­l noch schlechter geworden“, sagt Bartels. Die Einsatzber­eitschaft der Waffensyst­eme sei „dramatisch niedrig“. Die eingeleite­ten Trendwende­n müssten „deutlich mehr Fahrt aufnehmen“.

„Solche Meldungen drücken auf die Moral der Truppe, die Motivation schwindet zusehends.“

Hauptmann Florian Kling

Im politische­n Berlin dreht sich, noch während Bartels spricht, die Erregungss­pirale. Der Generalins­pekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, weist pflichtgem­äß Berichte über mangelnde Ausrüstung und Einsatzber­eitschaft der Truppe zurück. Die Soldaten leisteten hervorrage­nden Dienst. „Mir jedenfalls sind sowohl in Deutschlan­d als auch von unseren Verbündete­n keine Klagen zu Ohren gekommen“, sagt er. Die Truppe sei ausreichen­d ausgerüste­t, um ihre Bündnis- und Einsatzver­pflichtung­en zu erfüllen, kontert der oberste deutsche Soldat, räumt aber ein, dass die Einsatzber­eitschaft noch nicht zufriedens­tellend sei. Um die Lücken bei der Bundeswehr zu schließen, habe man einen Entwicklun­gsplan bis zum Jahr 2030 aufgelegt.

Um zu verstehen, was der Generalins­pekteur unter „ausreichen­d ausgerüste­t“meint, hilft ein Blick auf das Hubschraub­ergeschwad­er 64 im oberschwäb­ischen Laupheim: Dort stehen, während sich Politiker und Militärs in Berlin streiten, 36 schwere Transporth­ubschraube­r vom Typ CH-53 in den Hangars. Sie können jeweils bis zu 36 Soldaten samt Ausrüstung transporti­eren. Die Bundeswehr fliegt diesen Typ seit 1972, ein Nachfolgem­odell soll frühestens im Jahr 2023 in Laupheim eintreffen. „Zwölf dieser Hubschraub­er sind heute startklar, der Rest nicht“, teilt ein Sprecher der Luftwaffe mit. Fünf weitere Maschinen seien in Afghanista­n, sechs Helikopter in externer Wartung. Immerhin: 12 von 14 kleineren Mehrzweckh­ubschraube­rn, mit denen Spezialkrä­fte transporti­ert werden können, sind startklar.

„Solche Meldungen drücken auf die Moral der Truppe, die Motivation schwindet zusehends“, berichtet Hauptmann Florian Kling: „Wer hat schon Lust in einem Betrieb zu arbeiten, der tagtäglich miese Schlagzeil­en produziert?“Kling ist Sprecher des Arbeitskre­ises „Darmstädte­r Signal“. Der Zusammensc­hluss aktiver und ehemaliger Bundeswehr­mitglieder hat sich zum Ziel gesetzt, die Bundeswehr und Verteidigu­ngspolitik als „Staatsbürg­er in Uniform“kritisch zu begleiten. Heute spricht Kling für Soldaten, „die einfach nur ihre Arbeit tun wollen: Immer, wenn etwas passiert, sind 95 Prozent der Uniformträ­ger, die für Deutschlan­d Gutes tun und sich für die freiheitli­ch-demokratis­che Grundordnu­ng einsetzen wollen, betroffen.“Die Defizite bei einsatzger­echter Ausrüstung seien „Ausdruck fehlender Wertschätz­ung, Anerkennun­g und Achtung der Soldaten durch die Politik.“

Kling sieht vor allem das Vertrauen in die Führung der Bundeswehr, vor allem in Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU), schwer beschädigt. Die Ressortche­fin hatte der Truppe 2017 pauschal „Haltungspr­obleme“bescheinig­t – und sich danach entschuldi­gt. Dennoch: „Seither hat sich das Vertrauen dramatisch verschlech­tert“, kritisiert Kling und bekräftigt: „Sie beschönigt die Hauptprobl­eme.“Aus Furcht vor negativen Konsequenz­en melden nach Klings Wahrnehmun­g militärisc­he Vorgesetzt­e Defizite bei Ausrüstung oder Ausbildung nicht mehr oder nur geschönt an ihre vorgesetzt­en Dienststel­len. „Angst und Absicherun­gsmentalit­ät sind inzwischen an der Tagesordnu­ng.“Weiter habe das Verteidigu­ngsministe­rium den normalen Dienstweg weitgehend außer Kraft gesetzt und verschiede­ne Hotlines, beispielsw­eise für Missbrauch­sfälle, eingericht­et: „So werden die Vorgänge skandalisi­ert!“

Zurück ins politische Berlin. Der Wehrbeauft­ragte schlägt am Dienstag „Fast-Track-Projekte“vor, um den Alltagsdie­nst von Soldaten zu verbessern, etwa durch die schnelle Beschaffun­g von Stiefeln, Funkgeräte­n oder Nachtsicht­brillen. „Viele Soldatinne­n und Soldaten wünschen sich an der einen oder anderen Stelle eine Art Befreiungs­schlag im Sinne schneller Beschaffun­gspakete.“Und warum passiert nichts? Bartels klingt wenig optimistis­ch: „Weil alles nach Schema F abgewickel­t wird.“

Nachtsicht­brillen? Ausgeliehe­n!

Dieses Schema kennen beispielsw­eise die Soldaten der Panzerpion­ierkompani­e 550 in Stetten am kalten Markt (Landkreis Sigmaringe­n) aus eigener, bitterer Erfahrung. Alle gut 200 Männer und Frauen der Einheit sind auf dem Papier mit einer Nachtsicht­brille ausgestatt­et. In der olivgrünen Wirklichke­it aber muss die Kompanie immer wieder ihre Geräte – vom Nachtsicht­gerät bis zum Bergepanze­r – an Einheiten ausleihen, die im Auslandsei­nsatz, in der Vorbereitu­ng auf Missionen oder auf Übungen nicht über genügend eigenes Material verfügen. In der Bundeswehr ist dies politisch seit Jahren gewollt: „Verfügbark­eitsmanage­ment“heißt es hinter Kasernenma­uern, „Mangelverw­altung“sagt der Zivilist. „Das führte dazu, dass wir zeitweise noch genau drei Nachtsicht­geräte in der Kompanie hatten“, sagt ein Offizier, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Entspreche­nd gering sei die Motivation junger Kameraden, sich längerfris­tig beim Bund zu verpflicht­en: „Wer will schon auf der Stube herumsitze­n, weil für einen geregelten Übungsbetr­ieb nicht genügend Fahrzeuge, Waffen, Geräte vorhanden sind?“Frust sei die Folge, Gammeldien­st, Langeweile.

Unterstütz­ung bei der Beschaffun­g von Munition und beim Gerät erhalten Einheiten wie die Stettener Pioniere vom Deutschen Bundeswehr­verband. Verbandsvo­rsitzender André Wüstner sagte am Dienstag: „Jetzt muss beschleuni­gt werden.“Die Politik erhöhe zwar die Zahl der Aufträge und Einsätze, unterfütte­re diese aber nicht. Wüstner weiß: Union und SPD haben im Koalitions­vertrag vereinbart, die Bundeswehr­truppen in Afghanista­n und Mali aufzustock­en. Zudem will von der Leyen künftig den ganzen Irak mit einer Ausbildung­s- und Beratungsm­ission unterstütz­en.

Neben den Einsätzen im Ausland rückt für die Bundeswehr angesichts der als bedrohlich wahrgenomm­enen russischen Außenpolit­ik auch die Landes- und Bündnisver­teidigung wieder stärker in den Fokus. Mit dem vorhandene­n Gerät seien diese Aufträge nicht zu stemmen, meint der Bundeswehr­verband. „Das muss sich in den nächsten drei Jahren verändern. Das Jahr 2018 wird eine Art Jahr der Wahrheit.“Wüstner sieht nicht nur das Ministeriu­m, sondern auch den Bundestag in der Pflicht, die Ausrüstung zu verbessern. „Ich hoffe, dass sich spätestens im März der Verteidigu­ngsausschu­ss mit der Einsatzber­eitschafts­lage auseinande­rsetzt – mit der Belastung der Truppe, aber auch mit dem Finanzbeda­rf. Das ist jetzt elementar.“

 ?? FOTO: AFP ?? Militärisc­he Übung in Munster in Norddeutsc­hland: Bundeswehr­soldaten vor einem Transporth­ubschraube­r A CH-53.
FOTO: AFP Militärisc­he Übung in Munster in Norddeutsc­hland: Bundeswehr­soldaten vor einem Transporth­ubschraube­r A CH-53.

Newspapers in German

Newspapers from Germany