Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Von Frieden kann keine Rede sein
Noch immer sterben Menschen bei Kämpfen auf dem Donbass im Osten der Ukraine
RAVENSBURG - Dieser Krieg schläft nicht. Er ist nur ob der vielen Konflikte auf der Welt in Vergessenheit geraten. Tägliche Meldungen aus Syrien oder Nordkorea haben die Krise in der unmittelbaren Nachbarschaft in die zweite Reihe gerückt.
Genau vier Jahre ist es an diesem Freitag her, dass die mehrheitlich russischen Menschen auf der ukrainischen Halbinsel Krim sich bei einem Referendum für eine Annexion durch Russland entschieden haben. International anerkannt wurde diese nie. Seitdem kann von Ruhe oder gar Frieden keine Rede sein. Noch immer sterben Menschen auf dem Donbass im Osten der Ukraine bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und dem Militär.
Die Berichte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die den Konflikt vor Ort beobachtet, protokollieren regelmäßig den Einsatz von schweren Waffen und die Zahl von Milizen und zivilen Opfern. Beispielsweise am
9. März: Im Donezker Distrikt Kirovski sind Menschen in einem Bus getötet und verletzt worden, nachdem eine Handgranate explodiert war. Dies war eine von 60 Detonationen am 9. und
10. März – allesamt Verstöße gegen den Waffenstillstand, den die Kriegsparteien immer wieder aufs Neue aushandeln. Die Berichte der OSZE erzählen stets dasselbe.
Die Waffen schweigen meist nur „ein, zwei, drei Stunden“, berichtet Marco Neubauer. Er ist aktiv für die in Mannheim ansässige Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Rhein-Neckar – und seit 2013 mit einer Ukrainerin verheiratet. Seine Frau Nataliia lebt in Dnipro, und damit 200 bis 230 Kilometer weit entfernt von der „Kontaktlinie“, wie die Front genannt wird. „Dort sterben nach wie vor Menschen“, erzählt auch er. Der 42-Jährige wohnt in Heidelberg, ist aber alle zwei bis drei Monate vor Ort, um den Flüchtlingen zu helfen, wie er erzählt.
Denn die Kämpfe in der Ukraine haben viele Menschen zu Vertriebenen gemacht. 1,5 Millionen zählen die Vereinten Nationen insgesamt. Zu Beginn des Konflikts seien pro Tag bis zu 300 Menschen nach Dnipro gekommen, erinnert sich Neubauer. „Der große Ansturm ist aber vorbei.“
Die Flüchtlingskrise ist es jedoch nicht. Sie stellt viele Orte vor große Herausforderungen, in einem Land, das „ohnehin schon wirtschaftlich kämpft und nun zusätzlich mit einer solchen Belastung konfrontiert ist“, wie Uwe Stumpf erzählt. Er leitet bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Binnenvertriebenen in der Ostukraine. Für die vielen Neuankömmlinge fehlen laut Stumpf allerorts Schul-, Kita- und Arbeitsplätze und Wohnungen. Vor allem in den Gebieten Donezk und Luhansk, die von der Ukraine kontrolliert werden, und in den drei angrenzenden Regionen Charkiw, Dnipropetrowsk und Saporischschjha. Die GIZ arbeitet dort im Auftrag des Bundesentwicklungsministeriums. 92,8 Millionen Euro stehen dafür bislang zur Verfügung. Dieses Geld dient Gemeinden zum Beispiel beim Aufbau der sozialen Infrastruktur, aber auch zur psychosozialen Betreuung. Und das nicht nur übergangsweise. Die Neuankömmlinge stellen sich darauf ein, „aller Voraussicht nach dort zu bleiben und sich eine neue Existenz aufzubauen“, erzählt Stumpf.
Für manchmal bis zu 150 zusätzliche Kinder und Jugendliche hat die GIZ daher 49 Schulen saniert. „In einigen Gebäuden wurde nur das Dach repariert, in anderen neue Fenster eingesetzt. Manchmal wurden ganze Gebäudeteile entkernt und neu gestaltet“, so Stumpf. 26 Kindergärten seien zudem ausgestattet worden. 17 Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen wurden hergerichtet und Operationsund Kreißsäle mit technischem Gerät ausgestattet.
Eine funktionierende Infrastruktur ist wichtig. Doch wichtiger ist, was mit einer solchen einhergeht: Akzeptanz. „Die Situation ist vergleichbar mit der auf dem Balkan. Am Anfang ist die Solidarität mit den Flüchtlingen sehr groß. Aber wenn man feststellt, dass sie bleiben, und von dem ohnehin schon mageren Kuchen ein Stück abhaben wollen, dann gibt es Konflikte“, sagt Stumpf. Auch Qualifizierungsmaßnahmen der GIZ sollen diese verhindern. Die Menschen sollen für sich selbst sorgen können.
Die Konflikte im Kleinen lassen sich dadurch vermeiden, der Krieg jedoch geht weiter. Am Sonntag wählen die Menschen in Russland einen neuen Präsidenten, der vermutlich der alte sein wird: Wladimir Putin. Interessant ist eigentlich nur noch die Höhe der Wahlbeteiligung. Hier setzt der Kreml vorrangig auf äußere Machtentfaltung, die die Wählerschaft zum Urnengang mobilisieren und zugleich von inneren Defiziten ablenken soll, sagt Wilfried Jilge, Osteuropa- und Ukraineexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Putin nutzt aufgrund schwerer innen- und wirtschaftspolitischer Versäumnisse in Gesellschaft, Bildung und Wirtschaft weiterhin die Außenpolitik und militärische Stärke – vor allem gegenüber dem Westen – zur Legitimation seiner Herrschaft.“
Jilge: Chance durch UN
Es spricht einiges dafür, so Jilge, dass „Putin die Destabilisierung der Ukraine nicht aufgeben will: Denn eine stabile, prosperierende und demokratische Ukraine könnte in den Augen einiger Russen ein attraktives Gegenmodell zu Putins Autokratie bilden und die Besitzstände der den Kreml stützenden korrupten Oligarchen gefährden.“Zudem würde eine stabile Entwicklung in der Ukraine in Putins Weltsicht eine Niederlage in der Auseinandersetzung mit dem Westen beziehungsweise der EU bedeuten, so Jilge.
Eine Chance sieht Jilge in dem Einsatz einer friedenserhaltenden Mission durch die UN, den „Blauhelmen“. Nötig wäre eine „robuste Mission, die in der Fläche und an der russischen Grenze für Frieden sorgt“. Eine solche Mission könnte der Ukraine eine wichtige Atempause für innere Reformen verschaffen. Zugleich könnte sie die für die Umsetzung des in Minsk vereinbarten politischen Prozesses die dringend benötigte nachhaltige Sicherheit herstellen, meint Jilge. Es sei aber in Anbetracht der russischen Ukraine-Politik mehr als fraglich, ob der Kreml einer solchen umfassenden Mission in nächster Zeit zustimmen würde.