Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Bis zur Unkenntlichkeit verwittert
Serie Isnys Kleinode: Kreuzigungsgruppe im historischen Sitzungssaal des Rathauses
ISNY
- Um Schätze soll es gehen, die zumindest einer Beachtung wert sind. Die Kreuzigungsgruppe im Rathaus ist jedoch weder versteckt noch vergessen, aber sie genießt neben dem Fayence-Kachelofen im selben Raum wenig Beachtung – und niemand weiß so richtig Bescheid über dieses Kleinod. Gerade die Karwoche ist wohl der richtige Zeitpunkt, den historischen Spuren dieser Kreuzigungsgruppe nachzugehen und auch seiner zeitlos gültigen Botschaft Aufmerksamkeit zu schenken.
Vor einigen Jahrzehnten entdeckte ein heimatgeschichtlich interessierter Isnyer Mitbürger und Freund des Kemptener Heimatvereins besagte Kreuzigungsgruppe über einem Eingang in der Bodenmühle, der einstigen Mahlmühle des Klosters Isny. Um die Figuren vor weiterer Verwitterung zu retten, bemühte sich der Heimatforscher in Absprache mit dem damaligen Eigentümer und dem Isnyer Stadtarchivar um die „Rettungsaktion.“Er beschreibt ausführlich die Odyssee dieser Kreuzigungsgruppe zwischen Kempten und Isny, die wohl beide wenig Interesse zeigten, bis sie schlussendlich doch ihren Platz in Isny auf der Brüstung des Wandtäfers zwischen zwei Fenstern im historischen Sitzungssaal des Rathauses, gegenüber dem berühmten Kachelofen fand.
Einiges passt nicht so richtig zusammen
Sogar dem Laien muss schon beim flüchtigen Betrachten auffallen, dass einiges nicht so richtig zusammenpasst. Die Christusfigur am Kreuz befindet sich in einem ansehnlichen Zustand, die beiden Assistenzfiguren – Maria und Johannes, rechts und links – sind bis zur Unkenntlichkeit verwittert. Recherchen haben ergeben, dass die Christusfigur wohl rund 200 Jahre alt sein soll, Maria und der Jünger Johannes eher 500 Jahre alt sein dürften und der gotischen Schnitzkunst zuzuordnen seien.
Über den ersten und ursprünglichen Standort der Figuren ist nichts bekannt, bis sie endlich in der Bodenmühle „aufgegriffen“wurden. Möglich sei, dass die beiden aus massivem Holz geschnitzten Assistenzfiguren ursprünglich zu einem Altar gehörten. Möglicherweise sind sie erst in der Bodenmühle zur Gruppe zusammengestellt worden. Nachweisbar ist, so ist zu erfahren, dass die Christusfigur irgendwann eine Restauration mittels Kitt, Farbe und Wachsüberzug erfahren hat. Ebenso, und bereits schon viel früher, auch Maria und Johannes. Bei Maria würden sich sogar verschiedene Farbschichten nachweisen lassen, vor allem die Farbe blau, die Farbe des Himmlischen und der Reinheit der Gottesmutter.
Die zweite Ungereimtheit ist, dass Maria und Johannes je auf der falschen Seite des Herrn stehen – was sich an ihrem Platz im Rathaus durchaus auch leicht ändern ließe. In der biblischen und der kunsthistorischen Darstellung gebührt Maria der Ehrenplatz auf der rechten Seite des Herrn (vom Betrachter aus gesehen auf der linken Seite). Darauf weist Gerhard Weisgerber hin, der ehemalige Direktor des Gymnasiums und Fachmann für die Isnyer Kirchenkunst. Der kunsthistorische Wert der Kreuzigungsgruppe hält sich wohl, zumal in unrestauriertem Zustand, sehr in Grenzen.
Man könnte sich aber nach der religiösen Bedeutung fragen, zumal in der Karwoche und an diesem Ort, an dem Hochzeitspaare ihren Ehebund schließen, wo Arbeitskreise tagen und Sitzungen und Empfänge stattfinden. Irgendetwas müssen sich ja die Stadtoberen bei diesem Aufstellungsort gedacht haben?
Soll die Kreuzigungsgruppe an die Grundwerte der westlichen, christlich geprägten Kultur erinnern, nämlich an die Würde und Einmaligkeit jedes Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft, arm, oder reich? Auch an den Auftrag, den der christliche Glaube jedem Menschen, vor allem auch den Verantwortungsträgern anvertraut und zumutet: trachten nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung? Soll die Kreuzigungsgruppe auch an das christliche Menschenbild erinnern? Und damit ist wohl die Unvollkommenheit jedes Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit gemeint. Kein Mensch sei fehlerlos. Niemand könne die absolute Wahrheit für sich beanspruchen. Menschliche Worte seien nie letztgültig wahr. Menschliche Worte seien immer vorletzte, relative Worte.
Nur dem Jesus am Kreuz stünden letztgültige Worte zu. Und eines seiner insgesamt sieben letzten Worte heißt ja: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“Für diejenigen, die so tun, als hätten sie unfehlbaren Anspruch auf die letztgültige Wahrheit, sie müssten sich von der Kreuzigungsgruppe ermahnen lassen: „… sie wissen nicht, was sie tun.“