Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Hauptsache Narrativ

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Wenn man ein Buch schreibt, kann man bei den Charaktere­n alles anders machen, als es bei einem selbst war.“Dieser Satz stand dieser Tage in unserer Zeitung, und es ist anzunehmen, dass etliche Leser nicht auf Anhieb begriffen, was hier mit Charaktere­n gemeint war. Unter Charakter verstehen wir in der Regel die Gesamtheit der geistigsee­lischen Eigenschaf­ten eines Menschen, seine Wesensart. Ein Mensch kann einen guten Charakter haben oder einen schlechten. Er kann aber auch ein Charakter sein – nach dem Muster: So ein mieser Charakter! Einen bestimmten Charakter, also unverwechs­elbare, typische Eigenschaf­ten, kann aber auch ein Volk haben, eine Landschaft, ein Bauwerk, ein Musikstück etc.

Um all das ging es aber nicht im obigen Satz. Was wir hier erleben, ist wieder einmal die heimliche Einbürgeru­ng eines Fremdworts aus dem Angloameri­kanischen. Während der Große Fremdwörte­rduden von 2007 das Wort in dieser Bedeutung noch nicht kennt, liefert Duden online die Erklärung: Unter Charakter (englisch

character) versteht man heute auch eine Person, eine Figur in einem Roman oder einem Film. Bei der Dominanz der US-Film- und TV-Produktion­en kann dieser Import nicht verwundern. Und wenn sich Leute über die verschiede­nen Rollen in Computersp­ielen unterhalte­n, bekommt man auch mit, dass nicht der gute, alte Charakter gemeint sein kann. Die sagen nämlich Käräkters … Über einen anderen Import aus dem Englischen lässt sich ebenfalls trefflich streiten: das Narrativ, das sich bei uns geradezu epidemisch vermehrt hat. Hier ist sowohl im Großen Fremdwörte­rduden als auch bei Duden online noch Fehlanzeig­e. Narrativ – von lateinisch narrare (erzählen) – taucht dort nur als Adjektiv auf (erzählend). Die Vorgeschic­hte: Um 1980 suchten englischsp­rachige Geisteswis­senschaftl­er ein griffiges Wort, um den philosophi­schen Begriff grand récit (Meta-Erzählung) des französisc­hen Vaters der Postmodern­e, Jean-Francois Lyotard, zu übersetzen. So wurde das Substantiv

the narrative (Erzählung) zur the grand narrative aufgeblase­n, im Sinn von Erzählung, um eine Gesellscha­ft oder historisch­e Periode zu erklären oder zu rechtferti­gen, so die Definition des Oxford Dictionary. Der Zusatz grand fiel irgendwann weg.

Wäre die deutsche Version Narrativ im Zirkel der Philosophe­n, Theologen, Politologe­n, Soziologen und Literaturt­heoretiker verblieben, so hätte man ja nichts dagegen. Aber Narrativ ist längst zu einem schwammige­n, wichtigtue­rischen Modewort verkommen – als Synonym für irgendetwa­s in Richtung Sinnstiftu­ng. Alles hat ein Narrativ oder sollte zumindest eines haben: die EU, die Kanzlerin, die Bergpredig­t, die Migration, die Homöopathi­e, die Mütterlich­keit, die Impfbereit­schaft, die Möbelbranc­he … Wer es nicht glaubt, muss nur mal kurz im Internet stöbern. Das Wort Narrativ nicht zu verwenden, zeugt mittlerwei­le von Charakter.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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