Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Wie sich dieses Dings über Wasser halten konnte?“
Romanautor Franzobel liest bei den Literaturtagen aus „Das Floß der Medusa“
ISNY - Der österreichische Schriftsteller Franzobel hat die Autorenlesungen an den Isnyer Literaturtagen am Freitagabend im Kurhaus am Park beschlossen.
Mit Passagen aus seinem 600 Seiten gewichtigen Roman „Das Floß der Medusa“könnte er das blanke Grauen heraufbeschwören. Hat er aber nicht und das liegt an seinen literarischen Stärken als Gemisch aus bissigem Humor, lückenloser Recherche hinsichtlich der Historie und dem unverhohlenen Blick von einst auf ein Heute.
Wem die antike Mythologie um das Haupt der Medusa bekannt ist, dem graust es allein schon beim Gedanken daran. Ganz zu schweigen vom Anblick, obwohl Medusa vor den Verwünschungen der Göttin Athene von junger schöner Gestalt war. So ähnlich ist es der Fregatte namens Medusa ergangen, als sie stolz und erhaben mit vier weiteren Schiffen im Juni 1816 den französischen Hafen Rochefort verließ in Richtung westafrikanischer Küste. Mit 400 Besatzungsmitgliedern aus Soldaten, Matrosen und Familien an Bord, die die wiedergewonnene Kolonie Senegal in Besitz nehmen wollten.
Ein Drama auf See
Nur so weit kam es nicht. Die Medusa strandete am 2. Juli auf der gefürchteten Arguin-Sandbank. Das berühmte Gemälde von Théodore Géricault im Louvre verbildlicht das menschliche Drama, das sich dann auf See abspielte. Ein Ausschnitt mit sich pyramidenartig hochreckenden Gestalten, die um Hilfe rufen, ist auf dem Buchdeckel abgedruckt. Als Hochbegabten oder Querdenker, hellen Geist oder Workaholic stellte Dagmar Eger-Offel vom Arbeitskreis Literatur beim Kulturforum Isny den 1967 im oberösterreichischen Vöcklobruck als Franz Stefan Griebl geborenen, heute in Wien lebenden Autor vor.
Vermutlich ist er alles in einem, der einen so umgänglichen Eindruck macht. In Wirklichkeit aber ein äußerst streitbarer Zeitgenosse ist in Sachen kulturellem Output. Sein 2017 erschienener Roman speist sich wie schon vorangegangene Werke aus phantastischem Realismus, Sprachspiel und Wiener Volksstück. Allerdings habe er dieses Mal versucht, keine österreichischen Wörter zu verwenden. Auslöser zum Schreiben des Romans war der 60 Seiten lange Bericht eines Überlebenden dieser brachialen Floßfahrt. Wie vom Blitz sei er getroffen gewesen – auch, wenn einige Stimmen ihn gewarnt hätten, wer das lesen würde. Viele, wie sich mittlerweile zeigt. Drei Jahre habe er daran gesessen, ist nach Rochefort gefahren und hat sich in die Nähe des Unglücksortes vor der Küste Mauretaniens begeben.
Schreiben für die Ordnung
„Für mich bedeutet das Schreiben primär Ordnung schaffen. In dem unstrukturierten sinnlosen Dasein“, sagte er und begann mit dem Anfang des Romans zu lesen. An genau der Stelle, an der nach zwei Wochen sich von 150 Menschen noch 15 Überlebende auf dem selbst gezimmerten Floß befinden. Taumelnde Skelette mit Lippen wie aus Pergamentpapier auf einem Vehikel mit Mast und Sommersegel.
Ein abgetrennter Fuß steckt in den Brettern, Fleischstreifen sind zum Trocknen aufgehängt. „Pissköpfe“macht die Mannschaft vom rettenden Schiff aus, weil sie ins Meer urinieren. „Wie sich dieses Dings über Wasser halten konnte?“Diese Frage stellt man sich auch heute angesichts der Flüchtlingsdramen im Mittelmeer. Katastrophen, die im Verborgenen geschehen und im Falle der Medusa vertuscht werden sollten.
Wenn Franzobel sich in Rage liest Wenn Franzobel sich in Rage liest, ist er der grandiose Fabulierkünstler. Da gibt es kein Halten mehr. Da räumt er auf mit allen Fortschrittsegnungen, wie es auf einem solchen Schiff vor 200 Jahren zuging. Mit einem unfähigen Kapitän, einem Hochstapler und einem Arzt, der Passagieren nur noch mittels Klistier zur erlösenden Notdurft verhelfen kann. Was hier noch zum Lachen animiert, schockiert wenige Seiten später, als nach drei Tagen auf dem Floß nur noch 70 Menschen lebten. Über Bord geworfen, abgeschlachtet und aufgefressen. Aus Not, unzivilisiertem Verhalten, Unvernunft?
Die Schuldgefühle wiegen schwer, doch der Wille zum Überleben ist stärker. Wie es Franzobel schafft, dass man an seinem „Experiment“nicht scheitert, ist den literarischen Mitteln aus Humor und Verweis auf Zeitgenössisches zu verdanken. Sie suggerieren Zuhörern wie Lesern immer wieder die nötige Distanz, sich dem Grauen dann doch zu stellen.