Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ein Stück Stadtgeschichte geht leise zu Ende
In Lindenberg ist die letzte Einrichtung des „Eisenbahner-Waisenhortes“aufgelöst worden
LINDENBERG (pem) - Ein Kicker steht unbenutzt vor dem gut gefüllten Bücherregal, der Bildschirm des Fernsehgeräts im Wohnzimmer nebenan bleibt dunkel. Es ist ruhig in den Räumen der „Hobbits“. Die letzten beiden Kinder sind vor Wochen ausgezogen. Geblieben sind Alfred Kresser und Claus Huber – zwei von einst fünf Erziehern. Sie wickeln die Dauerwohngruppe für Jugendliche ab, das Letzte was vom früheren Eisenbahner-Waisenhort geblieben ist. Ein Stück Lindenberger Geschichte geht damit zu Ende, leise und unaufgeregt. „Es war absehbar. Wir sind schon ein bisschen stolz, es 15 Jahre durchgezogen zu haben“, sagt Kresser, der die „Hobbits“geleitet hat.
Das Haus der GKWG liegt an der Jägerstraße auf dem Weg zum Krankenhaus. Dort waren die „Hobbits“seit 2003 untergebracht. Die Wohngruppe war dorthin gezogen, nachdem die Stiftung den EisenbahnerWaisenhort in Ellgassen verkauft hatte. Bei den „Hobbits“fanden Kinder von aktiven oder ehemaligen Beschäftigten der Bahn eine Bleibe auf Zeit, wenn es in ihren Familien kriselte. 30 waren es in den 15 Jahren insgesamt. Fünf Erzieher und eine Hauswirtschafterin kümmerten sich um sie. „Wir waren Heimat- und Familienersatz“, sagt Kresser. Viele Kinder blieben fünf, sechs Jahre bei den „Hobbits“, eins sogar 17 Jahre. Die Kinder und Jugendlichen gingen in Lindenberg zur Schule, etliche machten dort ihre Ausbildung, einige haben im Westallgäu Partner gefunden, sind sesshaft geworden.
Das Ende kommt gleichwohl nicht überraschend. Die Zahl der Kinder bei den Hobbits ist nach und nach zurückgegangen. Für zehn Jugendliche war die Dauerwohngruppe ausgelegt. Seit vier Jahren lag die Belegung nicht mehr über 50 Prozent, berichtet Kresser. Der Trend der Jugendämter, Kinder möglichst in ihrem Umfeld zu lassen, hat sich niedergeschlagen. „Dauerwohngruppen sind nicht mehr angesagt“, sagt Huber. Bemerkbar gemacht hat sich auch der Wandel bei der Bahn. „Heute wissen viele Mitarbeiter nicht mehr, dass es die Einrichtung überhaupt gibt“, sagt Kresser.
Die Erzieher haben versucht, der Entwicklung entgegenzuwirken. Die Hobbits hätten auch Kinder von Nicht-Bahnern aufgenommen. Kresser hat 700 Jugendämter in Deutschland angeschrieben und auf die Wohngruppe aufmerksam gemacht. Nur eins hat überhaupt geantwortet. Und die Erzieher haben vor Jahren angefangen, in Zusammenarbeit mit systemischen Therapeuten ElternKind-Coaching anzubieten.
28 Jahre haben Huber und Kresser im Eisenbahner-Waisenhort gearbeitet. Beide waren vor gut drei Jahrzehnten die ersten Männer, die im Marienheim in Lindau die Ausbildung zum Erzieher absolvierten. Verbittert sind sie über das Ende der „Hobbits“nicht. „Es ist eine Stück Entwicklung der Zeit“, sagt Huber. Und: „Krisen sind auch Chancen.“
Ihre Kollegen haben andere Stellen gefunden, Huber und Kresser sind auf Ende Juni gekündigt, die Stiftung hat sie abgefunden. „Es war fair“, sagen beiden über die getroffenen Regelungen. Das Ende geht ruhig über die Bühne. Das war vor 15 Jahren noch anders. Als die Stiftung das Haus an der Alpe verkaufte, hagelte es Proteste. Auch, weil das große, 1936 errichtete Gebäude im Bewusstsein vieler Lindenberger fest verankert ist. Heute empfängt dort die Humboldt-Stiftung Jugendliche aus aller Welt.