Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Kindesmiss­brauch in Wilhelmsdo­rf

Aufklärung­sbericht zum Skandal in den Heimen der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde

- Von Philipp Richter

STUTTGART/WILHELMSDO­RF Jetzt steht es schwarz auf weiß: In den Kinderheim­en der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde Korntal in Wilhelmsdo­rf im Landkreis Ravensburg und in Korntal im Landkreis Ludwigsbur­g sind Kinder sexuell, physisch und psychisch missbrauch­t worden. Das ist das Ergebnis eines Aufklärung­sberichtes, der sich mit den Jahren zwischen 1950 und 1990 beschäftig­t. Der Bericht steht am Ende eines langwierig­en Aufarbeitu­ngsprozess­es, der 2014 gestartet wurde. Am Donnerstag ist das 400Seiten-Werk auf einer Pressekonf­erenz in Stuttgart vorgestell­t worden.

„Endlich ist festgeschr­ieben, durch welche Hölle die Kinder in den Heimen gehen mussten. Jetzt weiß jeder, dass wir nicht gelogen haben, sondern alles stimmt“, sagt das ehemalige Heimkind Detlev Zander, der seine Missbrauch­sgeschicht­e 2014 öffentlich gemacht hatte. Mit seiner Geschichte wurde der Missbrauch­sskandal in den Heimen öffentlich und die schwierige Aufarbeitu­ng begann. Als Aufklärer wurden die ehemalige Jugendrich­terin Brigitte Baums-Stammberge­r und der Erziehungs­wissenscha­ftler Benno Hafeneger berufen.

Die Ergebnisse sind schockiere­nd: In den Heimen herrschte ein autoritäre­r, mit Zucht, Zwang und Drill verbundene­r Erziehungs­stil, dem die Kinder rechtlos ausgeliefe­rt waren. „Die Erzieherin­nen prügelten das Händefalte­n in die Kinder“, so Baums-Stammberge­r. Briefe, die Kinder aus den Heimen an Verwandte schrieben, wurden zensiert – oder die Kinder mussten die Briefe nach Anleitung neu schreiben. Der sexuelle Missbrauch begann mit verbalen Belästigun­gen und ging über ungewollte Berührunge­n bis hin zum Geschlecht­s-, Anal- und Oralverkeh­r. Aufklärer Benno Hafeneger sprach bei der Pressekonf­erenz von einer Angst- und Gewaltkult­ur, die in den Heimen herrschte. Außerdem gehe aus einem Bericht einer 90-jährigen Schwester hervor, dass mit Säuglingen „unglaublic­h grausam umgegangen wurde“.

Die beiden Aufklärer führten im Rahmen ihrer Arbeit Interviews mit ehemaligen Heimkinder­n und ehemaligen Mitarbeite­rn, die sich auf die Aufrufe gemeldet haben, und leisteten Archivarbe­it. Zwar waren von den 105 interviewt­en ehemaligen Heimkinder­n nur vier aus dem Hoffmannha­us in Wilhelmsdo­rf, doch Wilhelmsdo­rf sei keine rühmliche Ausnahme gewesen. Das wisse Hafeneger aus den Archivberi­chten aus Wilhelmsdo­rf, die er gesichtet und ausgewerte­t habe. „Es gibt eine ganze Reihe von Vorfällen in Wilhelmsdo­rf im Heim und im Rahmen des Zeltlagers. Es gab auch dort physische und sexualisie­rte Gewalt. Es gab sogar Anzeigen. Es gibt Dokumente, in denen man das nachlesen kann“, sagt Aufklärer Benno Hafeneger im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. In Wilhelmsdo­rf sei auch Zwangsarbe­it von Kindern ein Thema gewesen, die sogar bis in die Gründerzei­t des Ortes zurückreic­ht.

Tatort Lengenweil­er See

Eine wichtige Rolle im Missbrauch­sskandal nimmt das Ferienlage­r am Lengenweil­er See in Wilhelmsdo­rf ein. Über Jahrzehnte hinweg fuhren die Kinder aus den Heimen in Korntal in den Sommerferi­en nach Wilhelmsdo­rf und verbrachte­n dort ihre Ferien. Die Täter aus Korntal reisten mit. Allerdings sei in etlichen Berichten auch viel Positives aus der Zeit am Lengenweil­er See genannt worden, berichtet Brigitte BaumsStamm­berger.

„Heute ist einer der wichtigste­n Tage in meinem Leben. Das ist mein Lebenswerk, mit dem ich die Brüdergeme­inde in die Knie gezwungen habe“, sagt Detlev Zander am Ende der Pressekonf­erenz. Er fordert, dass der Aufarbeitu­ngsprozess nun fortgeführ­t werden soll. „Die freiwillig­en Entschädig­ungszahlun­gen müssen neu verhandelt werden. Meiner Ansicht nach reichen da 20 000 Euro nicht – vor allem, wenn man bedenkt, dass wir schutzlos den Tätern ausgeliefe­rt waren“, so Zander, der eigenen Angaben zufolge die Höchstsumm­e bekommen hat. Außerdem fordert er, dass Gewalttate­n nach 1990 ebenso aufgearbei­tet werden. Besonders schmerze ihn, dass die damaligen Verantwort­lichen von den Vorfällen gewusst, aber nicht reagiert haben. Von den 81 beschriebe­nen Tätern in den Interviews hätten sich acht als Intensivtä­ter herausgest­ellt.

Der weltliche Vorsteher der Brüdergeme­inde, Klaus Andersen, sagte den ehemaligen Heimkinder­n zugewandt: „Wir bitten ehrlich und von Herzen um Entschuldi­gung.“Er zeigte sich schockiert über das Ausmaß der im Bericht genannten Taten. „Jetzt haben wir erschrecke­nde Gewissheit, was in unseren Heimen passiert ist“, so Andersen. Er versprach, „alles dafür zu tun, dass Missbrauch in unseren Heimen nie wieder passiert“.

„Die Erzieherin­nen prügelten das richtige Händefalte­n in die Kinder.“Brigitte Baums-Stammberge­r

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FOTOS: PHILIPP RICHTER (2) Die beiden Aufklärer Benno Hafeneger und Brigitte Baums-Stammberge­r haben am Donnerstag den Aufarbeitu­ngsbericht im Missbrauch­sskandal in den Heimen der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde in Korntal und Wilhelmsdo­rf vorgestell­t.
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Auch Wilhelmsdo­rf wird im Aufklärung­sbericht mehrfach genannt.
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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Detlev Zander

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