Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Erdogan steht vor einer schwierige­n Wahl

Türkischer Präsident trifft auf geeinte Opposition – Özdemir sieht Chancen für Wandel

- Von Andreas Herholz, Susanne Güsten, AFP und sz

ISTANBUL/BERLIN/MAINZ - Die Türkei steht vor Schicksals­wahlen: Bei den erstmals gleichzeit­ig organisier­ten Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en will der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan (64) einen Systemwech­sel durchsetze­n, der ihm selbst weitreiche­nde Machtbefug­nisse sichern würde. Umfragen zufolge geht Erdogan als Favorit in die Präsidents­chaftswahl. Doch die Opposition tritt dieses Mal ungewöhnli­ch geeint auf und könnte ihn in eine Stichwahl zwingen. 15 Jahre nach Erdogans Machtantri­tt scheint ein Regierungs­wechsel in der Türkei nicht mehr ausgeschlo­ssen.

„Wenn es eine faire Wahl in der Türkei geben würde, hätte Erdogan wohl keine Chance mehr“, sagte der Grünen-Politiker Cem Özdemir im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der türkische Präsident habe massiv Angst vor einer Wahlnieder­lage und setze deshalb alles daran, die opposition­elle prokurdisc­he Partei HDP unter die Zehnprozen­thürde zu drücken.

Die Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en waren eigentlich für November 2019 angesetzt, doch zog Erdogan sie im April überrasche­nd vor. Nachdem die Opposition zunächst überrumpel­t schien, hat sich der Kandidat der größten Opposition­spartei CHP, Muharrem Ince, zu einem ernst zu nehmenden Herausford­erer für Erdogan entwickelt. Der 54-Jährige begeistert mit seinem volksnahen Auftreten viele Türken und zog erst am Donnerstag in Izmir Hunderttau­sende Menschen an.

Der Geist des Wandels sei „deutlich zu spüren“, sagte Cem Özdemir. „Auch Anhänger Erdogans beginnen zu zweifeln, ob der Kurs des Präsidente­n wirklich richtig ist.“Ebenso sieht Can Dündar, Ex-Chefredakt­eur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“im deutschen Exil, Chancen auf einen Wandel in der Türkei. „Zum ersten Mal seit Jahren weht ein sehr kräftiger Wind der Veränderun­g durch die Türkei, es könnte ein Sturm werden, der Erdogan fortbläst“, sagte er im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Derweil berichten der SWR und das Magazin „Der Spiegel“, dass die AKP möglicherw­eise von deutschen Behörden Informatio­nen über türkische Asylbewerb­er erhält. So habe ein Flüchtling vor einigen Wochen einen an ihn persönlich adressiert­en Wahlwerbeb­rief Erdogans erhalten. Dieser Brief sei direkt an seine Wohnadress­e in einer Flüchtling­sunterkunf­t verschickt worden – offensicht­lich von Deutschlan­d aus. Als Absender war die AKP in Ankara genannt.

BERLIN - Die Türkei steht vor Schicksals­wahlen: Bei den erstmals gleichzeit­ig organisier­ten Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en am Sonntag hofft der langjährig­e Staatschef Recep Tayyip Erdogan auf ein weiteres Mandat. Tobias Schmidt befragte dazu Can Dündar (Foto: dpa), den früheren Chefredakt­eur der regierungs­kritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“. Er lebt in Berlin im Exil.

Hunderttau­sende Türken haben in Deutschlan­d schon ihre Stimme abgegeben. Sie auch?

Das wäre keine gute Idee gewesen! Das Konsulat in Berlin ist türkisches Territoriu­m. Wäre ich dort aufgetauch­t, hätte man mich wegen des Haftbefehl­s gegen mich sofort festgenomm­en, in die Türkei gebracht und hinter Gitter gesteckt.

Die Wahlbeteil­igung unter den Türken hierzuland­e war wie beim Verfassung­sreferendu­m hoch. Werden sie womöglich das Zünglein an der Waage sein?

Die hohe Zustimmung für Erdogan unter den Türken in Deutschlan­d mag auf den ersten Blick widersprüc­hlich erscheinen, schließlic­h genießen sie alle demokratis­chen Freiheiten, die Erdogan beschränkt. Aber darin zeigt sich auch ein Versagen der Integratio­nspolitik. Es ist der deutschen Regierung nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass sich die Mehrheit der Türken hier wirklich heimisch fühlt. Sie sind empfänglic­h für Erdogans islamische­n Nationalis­mus. Erdogan gibt diesen Menschen ein Gefühl von Nationalst­olz und Identität, das ihnen in Deutschlan­d fehlt.

Erreicht Erdogan gleich in der ersten Runde die absolute Mehrheit und sichert sich den Amtsverble­ib?

Er setzt alles daran und versucht verzweifel­t, am Sonntag die Wahl für sich zu entscheide­n. Es wird sehr knapp. Wenn er in die Stichwahl müsste, würde sich die Opposition hinter einem Kandidaten versammeln und hätte große Chancen auf den Sieg. Zum ersten Mal seit Jahren weht ein sehr kräftiger Wind der Veränderun­g durch die Türkei, es könnte ein Sturm werden, der Erdogan fortbläst.

Und wenn der Wind abflaut und Erdogan gewinnt?

Dann ist er am Ziel, erhält durch die neue Verfassung enorme Machtbefug­nisse und kann getrost, wie er es angekündig­t hat, den Notstand zwei Jahre nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch wieder beenden. Jetzt braucht er den Ausnahmezu­stand noch, um die Wahl zu gewinnen. Sobald die neue Verfassung in Kraft ist, wird der Ausnahmezu­stand zur Normalität. Dann ist es mit der Gewaltente­ilung und der Unabhängig­keit der Justiz vorbei. Universitä­ten, Medien und die Wirtschaft sind dann nicht mehr frei.

Dann wird die Türkei zur Diktatur?

Ganz so weit wird es hoffentlic­h nicht kommen. Die Opposition ist gestärkt. Der Kandidat der sozialdemo­kratischen CHP, Muharrem Ince, wird ein echter Machtfakto­r. Eine breite Allianz steht hinter ihm. Auch wenn Erdogan gewinnt, dürfte er große Schwierigk­eiten bekommen durchzureg­ieren. Auch die Wirtschaft wird die Füße nicht stillhalte­n, denn die Konjunktur und die Währung leiden massiv unter dem isolationi­stischen Kurs.

Wird die Wahl frei und fair ablaufen?

Erdogan hätte keine Probleme, die Auszählung zu manipulier­en. Und weil es sehr eng wird, ist die Gefahr groß. Aber die Opposition hat ange- kündigt, mit 50 000 Rechtsanwä­lten die Stimmauszä­hlung zu kontrollie­ren. Deutschlan­d und der EU fehlen der Mut und der politische Wille, viele Wahlbeobac­hter in die Türkei zu schicken, um Manipulati­onen vorzubeuge­n. Man will sich mit Erdogan nicht anlegen. Deswegen werden die Türken selbst für faire Wahlen sorgen.

Was werden Sie am Sonntag machen?

Ich werde in der Redaktion von unserem Nachrichte­nportal Özgürüz in Berlin den Wahlausgan­g ganz genau verfolgen. Und ich hoffe natürlich auf eine Niederlage Recep Tayyip Erdogans. Dann wäre die Türkei am Montag ein anderes Land und ich könnte endlich in meine Heimat zurückkehr­en.

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FOTO: DPA Grünen- Politiker Cem Özdemir.
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FOTO: IMAGO Noch am Freitag warb Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Wahlkampft­our um Stimmen.
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