Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Schmusen gegen den Schmerz
Tuli Luli ist ein außergewöhnliches Heim für verlassene Babys in Polen – Die Neugeborenen erfahren hier Geborgenheit und Liebe – und finden neue Familien
Im Streichel- und Spielzimmer sitzen vier Frauen auf dem flauschigen Teppichboden, jede hält ein Baby im Arm. Agnieszka Kozieł, 45 Jahre alt, beugt sich über Jagoda, massiert ihr das Bäuchlein und küsst die Füßchen. Jagoda, Blaubeere bedeutet das, blickt mit klaren Augen staunend in die Welt. Als sie kurz nach ihrer Geburt zu Tuli Luli kam, war sie abwesend. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, blieb mucksmäuschenstill. Für ihre Ersatzmama kein gutes Zeichen: Erst nach vielen ungehörten Rufen nach Aufmerksamkeit verstummen Babys. Wenn sie gelernt haben, dass niemand kommt, um sie zu trösten, zu füttern und zu halten.
Agnieszka Kozieł ist eine Frau mit Kurzhaarschnitt und energischer Ausstrahlung, die gern lacht, ihre blauen Augen funkeln. Die Arbeit bei Tuli Luli, so sagt sie, ist ihre große Liebe, ihre Erfüllung. Sie kann Jagoda und den anderen Babys etwas geben, das sie in den ersten Wochen ihres Lebens oft schmerzlich vermisst haben: Zuwendung und Zärtlichkeit, das Gefühl von tiefer Geborgenheit. Urvertrauen. Zu Agnieszka Kozieł wichtigsten Aufgaben gehören: singen, streicheln, schmusen, kuscheln und kitzeln. Medizin, die offenbar wirkt. Nach fünf Monaten in ihrem neuen Zuhause ist die kleine, früher so stille Jagoda ein aufgewecktes Mädchen. Wenn sie nicht Bauklötzchen gegeneinander schlägt oder auf dem Schoß von Agnieszka Kozieł Hoppe-hoppe-Reiter spielt, robbt sie jauchzend von einer Pflegerin zur nächsten und geht wackelig die ersten tapsigen Schrittchen. Immer wieder schmiegt sie sich an ihre Ersatzmama auf Zeit.
3224 getrunkene Milchfläschchen, 218 verschlungene Portionen Babybrei, 207 Kilogramm verbrauchte Windeln. Die Anzahl der Küsschen, Umarmungen und Kuschelstunden: ungezählt. Das ist die Bilanz eines gewöhnlichen Monats im Tuli Luli. Kaum irgendwo wird so viel geknuddelt und gespielt wie in diesem Heim für elternlose Säuglinge.
Auf der Fotowand im Flur lächeln zahnlose Babys. Schaukelstühle stehen in den Schlafzimmern, die Wände sind bemalt mit Vögeln, Bäumen, und Blumen. Überall liegen Decken, Kissen, Plüschtiere. Die Kleinen sollen sich behütet fühlen . Denn die Babys sind mit dem größtmöglichen Trauma ins Leben gestartet: Sie wurden verlassen.
Das Heim ist für all jene Kleinen, deren Eltern nicht für sie sorgen wollen – oder können. Alle zehn Stunden bleibt in Polen ein Baby allein zurück. Eltern geben sie im Krankenhaus oder am „Fenster des Lebens“ab, dem polnischen Pendant zur Babyklappe. Nirgendwo sind es so viele Kinder wie in Łódz, der drittgrößten Stadt des Landes: allein hier 85 Babys jedes Jahr. Es trifft vor allem jene aus ärmlichen Familien. Davon gibt es in Łódz viele, seitdem zu Zeiten des Kommunismus die Textilindustrie zusammenbrach. Es sind Kinder von Müttern, die selbst niemand haben wollte, Kinder von Müttern, die selbst verlassen wurden. Den schlechten Start ins Leben wollen die Pflegerinnen in Tuli Luli zum bestmöglichen machen. Die Winzlinge bleiben in dem Adoptionszentrum bis eine Familie sie zu sich nimmt, maximal zwölf Monate.
Das außergewöhnliche Heim hebt sich schon von außen von der Umgebung ab, eingeklemmt zwischen grauen Wohnblocks leuchten die nachtblauen Wände. Ein rosafarbener Flamingo ist auf die Fassade gemalt, der ein kleines Baby im Tragetuch schaukelt. In gewöhnlichen Kinderheimen gibt es viel zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit für Neugeborene, das weiß Jolanta Kałuzna, 41, die Leiterin und Mutter von zwei Kindern aus Erfahrung: „vor allem im so prägenden ersten Lebensjahr.“Jolanta Kałuzna spürt immer wieder: Die Verletzungen, die im Babyalter entstehen, schmerzen ein Leben lang. Die meisten adoptierten Kinder haben eine schwere Last zu tragen. Viele werden psychisch krank oder drogenabhängig, bleiben beziehungsunfähig. Und viele finden als Erwachsene selbst nicht die Kraft, sich um ihre Kinder zu kümmern. „Es ist ein Teufelskreis.“Denn ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt, kann auch später Probleme haben, Vertrauen aufzubauen. „Je früher wir anfangen, die Wunden zu heilen, desto größer ist die Chance für sie, ihr Trauma zu überwinden“, sagt Jolanta Kałuzna sanft. Darum hat sie 2016 Tuli Luli gegründet, was soviel heißt wie Schmusewiege. An ihrem Schreibtisch laufen seitdem alle Fä- den zusammen: Sie koordiniert Arbeitspläne, kümmert sich um die Finanzen, arbeitet das Personal ein. „Auch darum ist unsere Einrichtung kaum teurer als gewöhnliche Kinderheime“, sagt sie. Alle machen alles – kochen, Wäsche waschen, Fahrdienste.
Ehrenamtliche Kuschlerinnen
Es ist ein einzigartiges und gleichermaßen simples Konzept, das bereits Pädagogen aus den USA und Großbritannien in das kleine Kuschelparadies gelockt hat. Statt nur zwei Betreuer für zwanzig Kinder kümmert sich hier jede Pflegerin um maximal drei bis vier Babys zeitgleich, immer um dieselben. Die Frauen bleiben bis zu vierundzwanzig Stunden an der Seite der Babys. Die Mitarbeiterinnen sind ausgebildete Erzieherinnen oder Krankenschwestern. Agnieszka Kozieł ist Physiotherapeutin – und sie hat die beste Ausbildung, sie ist Mutter. Doch sie und die anderen Festangestellten können nicht jedem Baby die stundenlange Hingabe schenken, die es braucht. Das Besondere darum: Ehrenamtliche „Kuschlerinnen“umsorgen die Kinder. Hundert Freiwillige haben sich gemeldet, als sie zum Start von Tuli Luli im Oktober 2016 über Facebook vom Schmusebedarf erfuhren. Knapp vierzig sind geblieben: nach langen Gesprächen, Gesundheitstests, einer zwanzigstündigen Schulung: Wie halte ich ein Baby? Wie erkenne ich, was es braucht? Warum ist eine feste Bindung so lebenswichtig?
Jede sanfte Berührung ist Seelennahrung. Wickeln, füttern, baden allein reichen nicht. „Ein Baby muss spüren: Die Welt ist ein sicherer Ort. Ich erhalte Hilfe von Erwachsenen, wenn ich sie brauche“, sagt Anna Graczyk, 45, eine der Ehrenamtlichen. Sie hat sich mit Baby Mariusz auf die Couch gesetzt, hebt ihn in die Luft bis er jauchzt, wiegt ihn sanft im Arm. „Jedes Kind braucht das Gefühl von Schutz, Nähe, Körperwärme und Verlässlichkeit.“Wie wichtig Körperkontakt ist, zeigen Untersuchungen an Frühgeborenen. Babys, die regelmäßig gestreichelt wurden, schreien weniger, wachsen schneller und entwickeln sich besser.
Doch der Mensch hat nicht nur das Bedürfnis, Liebe zu empfangen, sondern auch zu geben. „Eigentlich mache ich das aus purem Egoismus. Ich werde geliebt, akzeptiert, gebraucht“, sagt Anna Graczyk. „Ich wollte helfen. Doch jetzt habe ich das Gefühl, noch mehr zurückzubekommen.“Drei Mal pro Woche kommt sie nach Feierabend in das Kinderheim zur Schmusestunde. Als sie vor einem Jahr begann, bei Tuli Luli freiwillige Babykuschlerin zu werden, hätte Anna niemals gedacht, wie viel die wöchentlichen Streicheleinheiten ihr bedeuten. Für Anna ist es eine einfache Rechnung. Beide Seiten sind glücklich, beide gewinnen.
Schwerer Abschied
Wäre da nur nicht der Abschied. „Mein erstes Baby vergesse ich nie.“Anna Graczyk zitiert einen Abschiedsbrief, den die Adoptiveltern an sie und die anderen Helferinnen geschrieben haben, ein Brief von ihrem Paulchen: „Danke dafür, dass ihr mich gehalten habt. Danke, dass ihr nachts an meinem Bettchen gestanden seid. Danke, dass ihr da wart, als ich euch gebraucht habe.“
Im ersten Jahr haben 30 Babys von Tuli Luli neue Familien gefunden. Zum ersten Geburtstag haben sie sich alle getroffen – zu einem großen Fest. Zwei davon, das ist der größte Erfolg, kehrten nach einigen Monaten im Heim zu den leiblichen Eltern zurück. „Mit der Hilfe von Pädagoginnen und den Krankenschwestern von Tuli Luli haben sie es sich zugetraut“, sagt Jolanta Kałuzna. Weil Adoption schwer ist, unterstützen die Angestellten von Tuli Luli die Eltern und Pflegefamilien – Wochen vorher und, wenn es sein muss in Zukunft auch noch Jahre danach.
Jedes Kind, das Tuli Luli verlässt, bekommt eine kleine Schatzkiste: vollgepackt mit Fotos, den ersten Söckchen, Erinnerungen, einem Tagebuch der ersten Monate. Viele der Mütter schreiben ihren Babys einen Abschiedsbrief, erklären, warum sie sie zurücklassen mussten. Manche legen ein Bild von sich bei, ein letzter Gruß. „Es hilft, wenn da nicht nur ein schwarzes Loch klafft, sondern wenn es Antworten gibt“, sagt Agnieszka Kozieł: Sie weiß, wie schwer es ist, mit der Lücke umzugehen. Einer ihrer beiden vierzehnjährigen Söhne ist selbst ein Adoptivkind. Sie hat ihn mit zwei Jahren aus einem gewöhnlichen Heim geholt, in dem Jolanta Kałuzna, die Gründerin der „Schmusewiege“, damals gearbeitet hat. Seitdem sind die beiden Frauen enge Freundinnen. „Ich wäre dankbar gewesen, wenn mein Sohn an einem Ort wie diesen gelandet wäre“, seufzt sie. „Damals waren die Pflegekräfte völlig überfordert, die Babys schlecht versorgt, in viel zu großen, schmuddeligen Kleidern.“Auch darum arbeitet Kozieł heute bei Tuli Luli. „Ich kann etwas zurückgeben – und etwas abgeben von meinem Glück als Mutter.“
Jedes Mal ist da ein kleiner Stich im Herzen, wenn eines der Kinder geht, sagt auch Agnieszka Kozieł. Bald ist es wieder soweit. Ihre kleine Blaubeere wird demnächst ein Jahr alt. Ihre neue Familie wartet schon.
Je früher wir anfangen, die Wunden zu heilen, desto größer ist die Chance für sie, ihr Trauma zu überwinden. Jolanta Kałuzna hat Tuli Luli vor zwei Jahren gegründet