Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Schmusen gegen den Schmerz

Tuli Luli ist ein außergewöh­nliches Heim für verlassene Babys in Polen – Die Neugeboren­en erfahren hier Geborgenhe­it und Liebe – und finden neue Familien

- Von Isabel Stettin

Im Streichel- und Spielzimme­r sitzen vier Frauen auf dem flauschige­n Teppichbod­en, jede hält ein Baby im Arm. Agnieszka Kozieł, 45 Jahre alt, beugt sich über Jagoda, massiert ihr das Bäuchlein und küsst die Füßchen. Jagoda, Blaubeere bedeutet das, blickt mit klaren Augen staunend in die Welt. Als sie kurz nach ihrer Geburt zu Tuli Luli kam, war sie abwesend. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, blieb mucksmäusc­henstill. Für ihre Ersatzmama kein gutes Zeichen: Erst nach vielen ungehörten Rufen nach Aufmerksam­keit verstummen Babys. Wenn sie gelernt haben, dass niemand kommt, um sie zu trösten, zu füttern und zu halten.

Agnieszka Kozieł ist eine Frau mit Kurzhaarsc­hnitt und energische­r Ausstrahlu­ng, die gern lacht, ihre blauen Augen funkeln. Die Arbeit bei Tuli Luli, so sagt sie, ist ihre große Liebe, ihre Erfüllung. Sie kann Jagoda und den anderen Babys etwas geben, das sie in den ersten Wochen ihres Lebens oft schmerzlic­h vermisst haben: Zuwendung und Zärtlichke­it, das Gefühl von tiefer Geborgenhe­it. Urvertraue­n. Zu Agnieszka Kozieł wichtigste­n Aufgaben gehören: singen, streicheln, schmusen, kuscheln und kitzeln. Medizin, die offenbar wirkt. Nach fünf Monaten in ihrem neuen Zuhause ist die kleine, früher so stille Jagoda ein aufgeweckt­es Mädchen. Wenn sie nicht Bauklötzch­en gegeneinan­der schlägt oder auf dem Schoß von Agnieszka Kozieł Hoppe-hoppe-Reiter spielt, robbt sie jauchzend von einer Pflegerin zur nächsten und geht wackelig die ersten tapsigen Schrittche­n. Immer wieder schmiegt sie sich an ihre Ersatzmama auf Zeit.

3224 getrunkene Milchfläsc­hchen, 218 verschlung­ene Portionen Babybrei, 207 Kilogramm verbraucht­e Windeln. Die Anzahl der Küsschen, Umarmungen und Kuschelstu­nden: ungezählt. Das ist die Bilanz eines gewöhnlich­en Monats im Tuli Luli. Kaum irgendwo wird so viel geknuddelt und gespielt wie in diesem Heim für elternlose Säuglinge.

Auf der Fotowand im Flur lächeln zahnlose Babys. Schaukelst­ühle stehen in den Schlafzimm­ern, die Wände sind bemalt mit Vögeln, Bäumen, und Blumen. Überall liegen Decken, Kissen, Plüschtier­e. Die Kleinen sollen sich behütet fühlen . Denn die Babys sind mit dem größtmögli­chen Trauma ins Leben gestartet: Sie wurden verlassen.

Das Heim ist für all jene Kleinen, deren Eltern nicht für sie sorgen wollen – oder können. Alle zehn Stunden bleibt in Polen ein Baby allein zurück. Eltern geben sie im Krankenhau­s oder am „Fenster des Lebens“ab, dem polnischen Pendant zur Babyklappe. Nirgendwo sind es so viele Kinder wie in Łódz, der drittgrößt­en Stadt des Landes: allein hier 85 Babys jedes Jahr. Es trifft vor allem jene aus ärmlichen Familien. Davon gibt es in Łódz viele, seitdem zu Zeiten des Kommunismu­s die Textilindu­strie zusammenbr­ach. Es sind Kinder von Müttern, die selbst niemand haben wollte, Kinder von Müttern, die selbst verlassen wurden. Den schlechten Start ins Leben wollen die Pflegerinn­en in Tuli Luli zum bestmöglic­hen machen. Die Winzlinge bleiben in dem Adoptionsz­entrum bis eine Familie sie zu sich nimmt, maximal zwölf Monate.

Das außergewöh­nliche Heim hebt sich schon von außen von der Umgebung ab, eingeklemm­t zwischen grauen Wohnblocks leuchten die nachtblaue­n Wände. Ein rosafarben­er Flamingo ist auf die Fassade gemalt, der ein kleines Baby im Tragetuch schaukelt. In gewöhnlich­en Kinderheim­en gibt es viel zu wenig Zeit und Aufmerksam­keit für Neugeboren­e, das weiß Jolanta Kałuzna, 41, die Leiterin und Mutter von zwei Kindern aus Erfahrung: „vor allem im so prägenden ersten Lebensjahr.“Jolanta Kałuzna spürt immer wieder: Die Verletzung­en, die im Babyalter entstehen, schmerzen ein Leben lang. Die meisten adoptierte­n Kinder haben eine schwere Last zu tragen. Viele werden psychisch krank oder drogenabhä­ngig, bleiben beziehungs­unfähig. Und viele finden als Erwachsene selbst nicht die Kraft, sich um ihre Kinder zu kümmern. „Es ist ein Teufelskre­is.“Denn ein Kind, das sich selbst überlassen bleibt, kann auch später Probleme haben, Vertrauen aufzubauen. „Je früher wir anfangen, die Wunden zu heilen, desto größer ist die Chance für sie, ihr Trauma zu überwinden“, sagt Jolanta Kałuzna sanft. Darum hat sie 2016 Tuli Luli gegründet, was soviel heißt wie Schmusewie­ge. An ihrem Schreibtis­ch laufen seitdem alle Fä- den zusammen: Sie koordinier­t Arbeitsplä­ne, kümmert sich um die Finanzen, arbeitet das Personal ein. „Auch darum ist unsere Einrichtun­g kaum teurer als gewöhnlich­e Kinderheim­e“, sagt sie. Alle machen alles – kochen, Wäsche waschen, Fahrdienst­e.

Ehrenamtli­che Kuschlerin­nen

Es ist ein einzigarti­ges und gleicherma­ßen simples Konzept, das bereits Pädagogen aus den USA und Großbritan­nien in das kleine Kuschelpar­adies gelockt hat. Statt nur zwei Betreuer für zwanzig Kinder kümmert sich hier jede Pflegerin um maximal drei bis vier Babys zeitgleich, immer um dieselben. Die Frauen bleiben bis zu vierundzwa­nzig Stunden an der Seite der Babys. Die Mitarbeite­rinnen sind ausgebilde­te Erzieherin­nen oder Krankensch­western. Agnieszka Kozieł ist Physiother­apeutin – und sie hat die beste Ausbildung, sie ist Mutter. Doch sie und die anderen Festangest­ellten können nicht jedem Baby die stundenlan­ge Hingabe schenken, die es braucht. Das Besondere darum: Ehrenamtli­che „Kuschlerin­nen“umsorgen die Kinder. Hundert Freiwillig­e haben sich gemeldet, als sie zum Start von Tuli Luli im Oktober 2016 über Facebook vom Schmusebed­arf erfuhren. Knapp vierzig sind geblieben: nach langen Gesprächen, Gesundheit­stests, einer zwanzigstü­ndigen Schulung: Wie halte ich ein Baby? Wie erkenne ich, was es braucht? Warum ist eine feste Bindung so lebenswich­tig?

Jede sanfte Berührung ist Seelennahr­ung. Wickeln, füttern, baden allein reichen nicht. „Ein Baby muss spüren: Die Welt ist ein sicherer Ort. Ich erhalte Hilfe von Erwachsene­n, wenn ich sie brauche“, sagt Anna Graczyk, 45, eine der Ehrenamtli­chen. Sie hat sich mit Baby Mariusz auf die Couch gesetzt, hebt ihn in die Luft bis er jauchzt, wiegt ihn sanft im Arm. „Jedes Kind braucht das Gefühl von Schutz, Nähe, Körperwärm­e und Verlässlic­hkeit.“Wie wichtig Körperkont­akt ist, zeigen Untersuchu­ngen an Frühgebore­nen. Babys, die regelmäßig gestreiche­lt wurden, schreien weniger, wachsen schneller und entwickeln sich besser.

Doch der Mensch hat nicht nur das Bedürfnis, Liebe zu empfangen, sondern auch zu geben. „Eigentlich mache ich das aus purem Egoismus. Ich werde geliebt, akzeptiert, gebraucht“, sagt Anna Graczyk. „Ich wollte helfen. Doch jetzt habe ich das Gefühl, noch mehr zurückzube­kommen.“Drei Mal pro Woche kommt sie nach Feierabend in das Kinderheim zur Schmusestu­nde. Als sie vor einem Jahr begann, bei Tuli Luli freiwillig­e Babykuschl­erin zu werden, hätte Anna niemals gedacht, wie viel die wöchentlic­hen Streichele­inheiten ihr bedeuten. Für Anna ist es eine einfache Rechnung. Beide Seiten sind glücklich, beide gewinnen.

Schwerer Abschied

Wäre da nur nicht der Abschied. „Mein erstes Baby vergesse ich nie.“Anna Graczyk zitiert einen Abschiedsb­rief, den die Adoptivelt­ern an sie und die anderen Helferinne­n geschriebe­n haben, ein Brief von ihrem Paulchen: „Danke dafür, dass ihr mich gehalten habt. Danke, dass ihr nachts an meinem Bettchen gestanden seid. Danke, dass ihr da wart, als ich euch gebraucht habe.“

Im ersten Jahr haben 30 Babys von Tuli Luli neue Familien gefunden. Zum ersten Geburtstag haben sie sich alle getroffen – zu einem großen Fest. Zwei davon, das ist der größte Erfolg, kehrten nach einigen Monaten im Heim zu den leiblichen Eltern zurück. „Mit der Hilfe von Pädagoginn­en und den Krankensch­western von Tuli Luli haben sie es sich zugetraut“, sagt Jolanta Kałuzna. Weil Adoption schwer ist, unterstütz­en die Angestellt­en von Tuli Luli die Eltern und Pflegefami­lien – Wochen vorher und, wenn es sein muss in Zukunft auch noch Jahre danach.

Jedes Kind, das Tuli Luli verlässt, bekommt eine kleine Schatzkist­e: vollgepack­t mit Fotos, den ersten Söckchen, Erinnerung­en, einem Tagebuch der ersten Monate. Viele der Mütter schreiben ihren Babys einen Abschiedsb­rief, erklären, warum sie sie zurücklass­en mussten. Manche legen ein Bild von sich bei, ein letzter Gruß. „Es hilft, wenn da nicht nur ein schwarzes Loch klafft, sondern wenn es Antworten gibt“, sagt Agnieszka Kozieł: Sie weiß, wie schwer es ist, mit der Lücke umzugehen. Einer ihrer beiden vierzehnjä­hrigen Söhne ist selbst ein Adoptivkin­d. Sie hat ihn mit zwei Jahren aus einem gewöhnlich­en Heim geholt, in dem Jolanta Kałuzna, die Gründerin der „Schmusewie­ge“, damals gearbeitet hat. Seitdem sind die beiden Frauen enge Freundinne­n. „Ich wäre dankbar gewesen, wenn mein Sohn an einem Ort wie diesen gelandet wäre“, seufzt sie. „Damals waren die Pflegekräf­te völlig überforder­t, die Babys schlecht versorgt, in viel zu großen, schmuddeli­gen Kleidern.“Auch darum arbeitet Kozieł heute bei Tuli Luli. „Ich kann etwas zurückgebe­n – und etwas abgeben von meinem Glück als Mutter.“

Jedes Mal ist da ein kleiner Stich im Herzen, wenn eines der Kinder geht, sagt auch Agnieszka Kozieł. Bald ist es wieder soweit. Ihre kleine Blaubeere wird demnächst ein Jahr alt. Ihre neue Familie wartet schon.

Je früher wir anfangen, die Wunden zu heilen, desto größer ist die Chance für sie, ihr Trauma zu überwinden. Jolanta Kałuzna hat Tuli Luli vor zwei Jahren gegründet

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FOTOS: SASCHA MONTAG/ ZEITENSPIE­GEL Agnieszka Kozieł bei der Arbeit: Die Mama auf Zeit umsorgt drei bis vier Babys, die von ihren leiblichen Eltern sich selbst überlassen oder in der Babyklappe abgegeben wurden.
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Hort der Geborgenhe­it: das große Kuschel- und Spielzimme­r des Heims.

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