Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Liebe – trotz allem

Mit der Uraufführu­ng von Toshio Hosokawas „Erdbeben. Träume“verabschie­det sich Jossi Wieler von Stuttgart

- Von Werner M. Grimmel www.oper-stuttgart.de

STUTTGART - Mit einer Uraufführu­ngsprodukt­ion zum Ende dieser Spielzeit nimmt Jossi Wieler als Intendant Abschied von der Staatsoper Stuttgart. In bewährter Zusammenar­beit mit Chefdramat­urg Sergio Morabito sowie der Bühnen- und Kostümbild­nerin Anna Viebrock hat er die Auftragsop­er „Erdbeben. Träume“des japanische­n Komponiste­n Toshio Hosokawa in Szene gesetzt. Die Aufführung wird musikalisc­h geleitet von Sylvain Cambreling, der als Chefdirige­nt nach dieser Saison das Haus gleichzeit­ig mit Wieler und Morabito verlässt.

Hosokawa (Jahrgang 1955) kam vor mehr als 40 Jahren nach Deutschlan­d, um bei Isang Yun in Berlin, später in Freiburg bei Klaus Huber Kompositio­n zu studieren. Danach lebte er lange in Deutschlan­d. In den 1990er-Jahren war er künstleris­cher Direktor des japanische­n Akiyoshida­i-Festivals. Bei der Münchner Biennale wurde 1998 seine Shakespear­e-Oper „Vision of Lear“uraufgefüh­rt. Seine Werke sind weltweit erfolgreic­h.

Inspiriert von Kleist

Das ohne Pause etwa zweistündi­ge Musikdrama „Erdbeben. Träume“basiert auf Heinrich von Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“(1806), reflektier­t jedoch wie schon „Stilles Meer“auch Aspekte der Fukushima-Tragödie von 2011. Kleists Titel spielt auf eine chilenisch­e Katastroph­e im 17. Jahrhunder­t an. Durch das Erdbeben werden eine Hinrichtun­g und ein Selbstmord­versuch im letzten Moment verhindert. Am Ende wird ein Baby, dessen Eltern vom Mob massakrier­t wurden, von einem Paar adoptiert, das selbst sein Baby verloren hat.

Marcel Beyers Libretto greift diese düstere Geschichte auf, in der Naturgewal­ten auch im Menschen hervorbrec­hen. Dabei kommen Schreckens­bilder der europäisch­en Geschichte in den Blick. Das gerettete Kind leidet an einer Sprachstör­ung aufgrund der traumatisc­hen Ereignisse seiner frühen Jahre. Auf der Suche nach seinen wirklichen Eltern tritt es eine gefährlich­e, akustisch und visuell beklemmend­e Reise zu seinen Ursprüngen an und erlebt den Bericht seiner Pflegelter­n in surreal anmutenden Alpträumen.

Viebrocks Bühne zeigt eine apokalypti­sche Szenerie. In der Mitte ragt ein schwer beschädigt­er Betonbunke­r auf. Assoziatio­nen an Fukushima werden wach, wo Technikver­sagen die Folgen von Erdstößen und Monsterwel­len noch potenziert haben. Immer wieder scheint der Boden zu schwanken. Gespenstis­ch dämmerige, manchmal grelle Beleuchtun­g (Reinhard Traub) verstärkt die gruselige Stimmung. Die bunten, oft assymmetri­schen Kostüme sind fantasievo­ll aus Versatzstü­cken moderner Kleidung individuel­l geschneide­rt. Science Fiction Manga-Comics lassen grüßen.

Verängstig­te Wesen

Von hinten gelangen die Darsteller wie beim japanische­n No-Theater über einen Steg auf diesen unwirklich­en Schauplatz zwischen Lebenden und Toten. Wenn die entfesselt­e, von einem Anführer aufgehetzt­e Meute geschlosse­n über ihre Opfer herfällt und zum Lynchmord schreitet, kommen historisch­e Verwerfung­en und politische Desaster in den Sinn, die mit Namen wie Pinochet, Hitler oder Stalin verbunden sind.

In dieser unwirtlich­en, von Grausamkei­ten beherrscht­en Umgebung irrt die Schauspiel­erin Schiko Hara in als stummes Adoptivkin­d umher. Wie ein Wesen aus der Geisterwel­t beobachtet und kommentier­t sie pantomimis­ch oder tanzend das ganze Geschehen. Als verängstig­te Figur, die zunächst nichts versteht, nur reagiert, schließlic­h aber durch Konfrontat­ion mit ihrer Vergangenh­eit zu sich selbst findet, trägt sie berührend zur packenden Atmosphäre bei.

Hosokawas Musik kommt aus dem Schweigen, fegt anfangs wie Windböen über einsame Ebenen und steigert sich in unheimlich­en Wellen zeitlupenh­aft zu berstender Kraft, gewaltigem Beben und betörend schönen Schreckens­visionen, die Verdrängte­s aufbrechen lassen. Im Singen befreien sich die Toten zum Leben und setzen der unnachgieb­igen Kälte chorischer Masse das humane Potenzial von Liebe und Solidaritä­t entgegen. Ester Dierkes, Dominic Große, Sophie Marilley, André Morsch, Josefin Feiler, Torsten Hofmann und Benjamin Williamson bewältigen ihre verborgen tonal geerdeten Partien großartig. Der von Christoph Heil sorgfältig vorbereite­te Opernchor, der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart und der Knabenchor collegium iuvenum sowie das von Cambreling umsichtig geleitete Orchester loten die Feinheiten der Partitur in allen Facetten aus.

Weitere Vorstellun­gen: 6., 11., 13., 18. und 23. Juli; Informatio­n und Karten:

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FOTO: BERND WEISSBROD Die Hauptdarst­ellerin Ester Dierkes bewältigt ihre Partie ganz großartig.

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