Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Scholl-Neffe ruft zu Zivilcourage auf
Infoabend zum Thema Rechtsextremismus in der Region im Kurhaus
BAD WURZACH - Über Rechtsextremismus in der Region haben Referenten auf Einladung der Stadtverwaltung am Mittwochabend im Kurhaus von Bad Wurzach informiert.
Da die Polizei befürchtete, dass Rechtsextreme die Veranstaltung stören, war sie mit einem relativ großen Aufgebot vor Ort und im Umkreis unterwegs. Auch gab es beim Einlass in das Kurhaus Taschenkontrollen von Securitykräften. Bürgermeister Roland Bürkle betonte in seiner Begrüßung zudem, dass er konsequent von seinem Hausrecht Gebrauch machen und Störer entfernen lassen werde. Es kam jedoch zu keinerlei Zwischenfällen.
Etwa 60 Menschen hatten den Weg ins Kurhaus gefunden, was die Veranstalter – Stadt, Demokratiezentrum Oberschwaben sowie Redaktion des linksgerichteten Onlinemediums „Allgäu rechtsaußen“– zufrieden stimmte.
Mit dem Zitat „Wir müssen endlich was tun“von Sophie Scholl eröffnete Peter Sellmayer den Abend. Roland Bürkle erinnerte an das Konzert rechtsextremer Kreise im Oktober vergangenen Jahres in einem Gehöft bei Seibranz. 250 Skinheads aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren dazu angereist. Mehr als 200 Polizisten kontrollierten Besucher und beobachteten das Konzert. Das sei „ein Schock“gewesen. Viele Bürger hätten sich daraufhin an die Stadt gewandt und sie gebeten prüfen zu lassen, wie man so etwas künftig verhindern kann.
Der Bürgermeister gestand freilich ein, dass die Mittel der Stadt „sehr eingeschränkt“seien. „Das ist der Preis unserer freiheitlichen Grundordnung und unterscheidet uns von Diktaturen“, sagte er. „Auch ich höre viel in der Stadt, wo ich sage ,so nicht’, aber als Bürgermeister kann ich dagegen nichts unternehmen.“Als Privatmensch sei dies anders: „Extremismus, von rechts wie von links, führt stets zu Gewalt und Unterdrückung. Dazu Nein zu sagen, ist Bürgerpflicht.“
Konzerte als Mittel der Ideologisierung und Anwerbung
Sebastian Lipp, Redakteur von „Allgäu Rechtsaußen“, gab in seinem halbstündigen Referat einen Überblick über rechtsextreme Organisationen, Bands und Aktivitäten im Allgäu. Er nannte die Band Faustrecht, die bei Seibranz aufgetreten ist und deren Mitglieder hauptsächlich aus Mindelheim und Memmingen kommen, sowie die Organisation Voice of Anger. Sie war Veranstalter des Konzerts, eines ihrer Mitglieder soll Eigentümer des Gehöfts sein.
Voice of Anger ist laut Bayerischem Verfassungsschutz mit 60 bis 80 Mitgliedern und einem großen Umfeld an Sympathisanten die größte rechtsextreme Gruppe im Freistaat. Laut Lipp ist sie „vom Bodensee bis Buchloe und von Ulm bis Füssen aktiv“. Er nannte das Gebäude bei Seibranz „die bedeutendste Immobilie der Gruppe. Einsam gelegen und doch über A 7 und A 96 gut angebunden.“
In Bad Grönenbach hat zudem das Musiklabel Oldschool Records seinen Sitz, das ebenfalls im Verfassungsschutzbericht des Freistaats aufgeführt wird. Gegen den Inhaber laufe derzeit nach einer Razzia ein Verfahren vor dem Oberlandesgericht mit 88 Anklagepunkten, sagte Lipp.
Musik und Konzerte nutze die rechtsextreme Szene zur Ideologisierung und Szenebindung von unpolitischen jungen Menschen, so Lipp. „Die NSU ist in einer solchen Szene groß geworden und wurde aus ihr heraus unterstützt.“„Wir befürchten, dass sich bei Seibranz ein neuer Nazi-Treffpunkt etabliert, sich rechtsradikale Gewalt dann auch hier niederschlägt und sich ein neues Rekrutierungsfeld bis hinein nach Vorarlberg und in die Schweiz auftut.“
Die rechte Szene im Allgäu sei „mobilisierungsfähig“, warnte Lipp, „und wir gehen von einem weiteren Erstarken aus.“Die Zahl an rechtsmotivierten Straftaten steige im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West in Kempten seit Jahren beständig. Für das Polizeipräsidium Konstanz und den Landkreis Ravensburg gebe es leider keine Zahlen, bedauerte Lipp, zählte aber mehrere Vorfälle im Schussental und auch in Bad Wurzach auf, die sich in den vergangenen Monaten zugetragen hätten.
„Wir sind nicht Einzelne, wir sind die Mehrheit.“
Zweiter Redner des Abends war Julian Aicher. Der Journalist, Unternehmer und ÖDP-Kreisrat aus Leutkirch ist Neffe der von den Nationalsozialisten hingerichteten Sophie und Hans Scholl.
Er rief eindringlich zu Zivilcourage auf. Die Haltung „lasst die doch machen“sei falsch. „Es hat seinen guten Grund, dass bestimmte Meinungen und Haltungen verboten sind“, mahnte Aicher. So sei der „Hitlergruß Symbol einer Regierung, die Massenmord betrieben hat“, rief er in Erinnerung. Aicher lobte die Polizei, die beim Konzert in Seibranz „sehr aktiv und ordentlich reagiert“habe. Einen solchen Verfolgungsdruck auszuüben sei notwendig.
Gleichzeitig sieht Julian Aicher jeden einzelnen Demokraten in der Pflicht, „sich öfter öffentlich zu zeigen“. Dann würde auch deutlich werden: „Wir sind nicht Einzelne, wir sind die Mehrheit.“