Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Der kanadische Zauberlehrling geht
Erst Tänzer, dann Intendant: Reid Anderson verlässt nach 39 Jahren das Stuttgarter Ballett
STUTTGART - Am Stuttgarter Ballett endet eine Ära: Der Kanadier Reid Anderson war 22 Jahre dort Intendant, sagenhafte 39 Jahre war er Mitglied des weltberühmten Balletts. Anderson gilt als Bewahrer und Experte der in Stuttgart entstandenen Cranko-Ballette.
Die ausdrucksstarke Compagnie, die für ihre emotionalen Momente auch direkt nach den Vorstellungen bekannt ist, feiert den Abschied ihres Bosses, wie ihn manche nennen, ab 13. Juli mit einer zehntägigen Festwoche unter dem Titel „A Reid Anderson Celebration“. Ab 23. Juli 2018 ist dann der aus den USA stammende ehemalige Erste Solist, Kammertänzer und stellvertretende Intendant Tamas Detrich verantwortlich dafür, dass das Stuttgarter Ballett seine Position als eines der richtungsweisenden Tanzensembles behält. Anderson wird, wie man erfuhr, auch weiter dem Ballett treu bleiben.
In seiner Abschiedswoche wird vieles von dem auf die Bühne kommen, was das Stuttgarter Ballett unter Reid Anderson auszeichnet: Vor allem ein beeindruckendes Konvolut von Handlungs- und Literaturballet- ten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Diese haben in Bezug auf das erzählerische Potenzial von Tanz ästhetische Maßstäbe gesetzt.
„Onegin“von John Cranko ist hier zu nennen, das am 20. Juli auf die Bühne kommt. Dieses Stück hatte das Stuttgarter Ballett 1969 in New York über Nacht in die Top Ten der besten Compagnien weltweit katapultiert und den Mythos vom „Stuttgarter Ballettwunder“begründet. Anderson, kurz zuvor von Cranko als Tänzer engagiert, stand damals persönlich in der Rolle des Fürst Gremin auf der Bühne. In Zukunft wird er, wie man hörte, „Onegin“, aber auch Crankos „Romeo und Julia“weiterhin in anderen Compagnien Schritt für Schritt einstudieren.
Choreografen-Schmiede
Der Film „Romeo und Julia“erfährt zum Auftakt der Festwoche am 13. Juli im Metropol-Kino Stuttgart seine lange herbeigesehnte Premiere. Ab dem 22. Juli ist der Ballettfilm deutschlandweit zu sehen. Mit „Lulu. Eine Monstretragödie“von Christian Spuck steht am 14. Juli das erste abendfüllende Ballett auf dem Programm, das Anderson 2003 in Auftrag gegeben hatte. Es ermöglichte dem heutigen Zürcher Ballettdirektor, in die Riege der international gefragten Tanzerzähler aufzusteigen. Die Wiederaufnahme vor wenigen Wochen mit einer legendären Alicia Amatriain offenbarte, um wieviel stärker diese inhaltlich heftige Inszenierung in die heutige Zeit passt.
Es ist ein besonderes Verdienst Reid Andersons, in seinen 22 Jahren als Intendant nicht nur das Repertoire um bedeutende Werke, etwa von Jerome Robbins, erweitert zu haben. Dessen „Dances at a Gathering“aus dem Jahr 1969 ist unter anderem am 19. Juli Teil der Festwoche. Zudem hat Anderson zwei Generationen stilistisch international überzeugender Choreografen herangezogen – neben Spuck auch Marco Goecke, Mauro Bigonzetti, Douglas Lee, Bridget Breiner, Demis Volpis, Eric Gautier, Katarzyna Kozielska oder Louis Stiens, um nur einige zu nennen. Drei Ballettabende, am 16., 17. und 19. Juli, bündeln exemplarische Tanzwerke und garantieren Einblick in die aufregende Bewegungswelt „made in Stuttgart“, wie Anderson vor Jahren einen seiner Ballettabende genannt hatte.
Schlichter lässt sich seine Bilanz in Zahlen ausdrücken. Seit 1996 hat Anderson 112 Uraufführungen in Auftrag gegeben, 60 Ballettabende konzipiert, 90 Erstaufführungen nach Stuttgart geholt und 100 Gastspiel-Einladungen angenommen. 38 Preise und Auszeichnungen haben er und Mitglieder des Stuttgarter Balletts zudem eingeheimst. Mindestens sechs Ballettdirektoren in Europa und Kanada dürfen sich derzeit als seine Zöglinge bezeichnen.
Durchhaltevermögen bewies Anderson schließlich in Bezug auf den Neubau der John-Cranko-Ballettschule. Ganze zwanzig Jahre kämpfte er um jenes Bauensemble, das derzeit in nächster Nähe des Opernhauses entsteht. Zwei Drittel der Compagnie stammen heute aus der renommierten Ausbildungsstätte. Insgesamt 102 Absolventen hat Anderson seit 1996 einen Arbeitsvertrag ausgehändigt, durchschnittlich vier pro Jahr.
„Ballett im Park“als Höhepunkt
Die Schule wird es ihm am 21. Juli mit einer Gala danken, die Stücke der derzeit gefragtesten Choreografen beinhalten wird. Als sicherer Höhepunkt gilt die Abschiedsgala am 22. Juli ab 17 Uhr. Sie wird im Rahmen des mittlerweile legendären Draußen-Angebots der Compagnie unter dem Titel „Ballett im Park“kostenlos auf einer Großbild-Videowand im Oberen Schlossgarten live übertragen.
Anderson bleibt jedoch präsent in Stuttgart. Bekannt für seine charmante und die unterhaltsame Art, sein Wissen und seine Erlebnisse zu erzählen, gestaltet er am 15. Juli eine Ein-Mann-Show. Beginn ist um 15 Uhr. Wer ihn jemals live erlebt hat, weiß, dass der Nachmittag vergnüglich werden wird. Programm der Festwoche unter www.stuttgarter-ballett.de. Viele der Veranstaltungen sind ausverkauft, es gibt aber Restkarten an der Abendkasse, zudem am 22. Juli die Großbild-Übertragung der Abschiedsgala im Schlossgarten, die für alle frei ist.