Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Juncker stellt zum letzten Mal die Weichen
Der scheidende Kommissionspräsident fordert mehr EU-Souveränität
STRASSBURG - Zum vierten und letzten Mal hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch seine Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten. Dabei sprang er vom ganz Großen (Entschlosseneres Handeln in der Außenpolitik, verstärkter Schutz der Außengrenzen, Partnerschaft mit Afrika, eine stärkere Rolle der Eurowährung) zum ganz Kleinen, der Abschaffung der Sommerzeit. Er werde es nicht hinnehmen, dass die EUKommission zum Sündenbock für sämtliche Fehlentwicklungen in Europa gemacht werde, erklärte er trotzig, um dann flügellahm einzufügen: „Obwohl es genau so kommen wird.“
Nur ein Mal hielt der Saal während der einstündigen Rede den Atem an. Das war, als sich Juncker für zögernden Applaus bedankte und sagte: „Das gibt mir die Möglichkeit zu trinken.“Die Kameras blendeten ausgerechnet in diesem Moment das hämisch grinsende Gesicht von Nigel Farage ein, dessen UKIP in Großbritannien maßgeblich für das gewonnene Austrittsreferendum war und den mit Juncker eine seltsame Hassliebe verbindet. Bei der Wahl kommenden Mai tritt Farage nicht wieder an, es ist also für beide Politiker die Abschiedsrunde.
Offene Punkte
Inhaltlich streifte Juncker in seiner Rede sämtliche Punkte, die aus dem zu Beginn seiner Amtszeit vorgelegten Programm offen sind und mahnte die Abgeordneten und die Regierungen, möglichst vieles davon noch vor der Europawahl abzuarbeiten. Unter anderem sollen Plattformbetreiber verpflichtet werden, terroristische Inhalte innerhalb einer Stunde aus dem Netz zu löschen.
Illegale Einwanderung soll noch stärker als bisher abgeblockt werden. Stolz verweist Juncker darauf, dass schon jetzt aus der Türkei 97 Prozent weniger Flüchtlinge in die EU gelangen als vor drei Jahren. Entlang der zentralen Mittelmeerroute betrage der Rückgang 80 Prozent. „EU-Einsätze trugen seit 2015 zur Rettung von mehr als 690 000 Menschen auf hoher See bei.“Das Mandat der Grenzschutzagentur Frontex soll rasch weiter ausgedehnt und das Personal innerhalb von zwei Jahren auf 10 000 Mitarbeiter aufgestockt werden.
Mit Blick auf Osteuropa bedauerte der Kommissionspräsident, dass es an der nötigen Balance zwischen „Verantwortung eines jeden Landes für sein eigenes Hoheitsgebiet und der nötigen Solidarität untereinander“mangele. Diese Solidarität, also die Lastenteilung bei der Flüchtlingsaufnahme, sei Voraussetzung dafür, dass der Schengenraum erhalten bleibe. „Ich bin und bleibe gegen Binnengrenzen. Sie müssen dort, wo es sie inzwischen wieder gibt, abgeschafft werden“, erklärte Juncker in Richtung Deutschland und Österreich.
Ein rosiges Bild zeichnet er von Europas wirtschaftlicher Entwicklung während seiner Amtszeit. Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite stehe die EU besser da als zuvor. Seit 2014 seien knapp zwölf Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. 339 Millionen Menschen seien berufstätig – mehr als je zuvor. Die Jugendarbeitslosigkeit sei mit durchschnittlich 14,8 Prozent zwar noch immer zu hoch, aber auf dem niedrigsten Stand seit dem Jahr 2000. Der Europäische Fonds für strategische Investitionen – „den einige immer noch JunckerFonds nennen“– habe 335 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Investitionen mobilisiert. Griechenland habe eine Herkulesaufgabe bewältigt und stehe wieder auf eigenen Beinen.
Europa und seine durch Handelsabkommen verbundenen siebzig Partner stünden für 40 Prozent des weltweiten BIP. „Vereint als Europäer sind wir eine Kraft, mit der man rechnen muss. In Washington habe ich im Namen Europas gesprochen. Einige haben die Vereinbarung, die ich mit Präsident Trump erzielen konnte, als überraschend bezeichnet. Aber von Überraschung kann keine Rede sein. Entscheidend war, dass Europa mit einer Stimme gesprochen hat.“
Diese Einmütigkeit wird in den kommenden Monaten auf eine harte Probe gestellt. Die meisten der von Juncker angeregten Maßnahmen, angefangen von stärkerer Verteidigungsbereitschaft über einen Ausbau von Frontex bis zu mehr Investitionen in Afrika, kosten viel Geld.