Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Eine offene Wunde

Genua – einen Monat nach dem Einsturz der Brücke

- Von Lena Klimkeit

GENUA (dpa) - Wenn eine Straße mitten im Nichts endet, dann durchzuckt es einen schon beim Anblick. Zwei mächtige Betonstümp­fe ragen in den Himmel über Genua, seit einem Monat schon. Unglaublic­h, nicht möglich, unfassbar, sind dann die Worte, die einem zu Ohren und in den Sinn kommen. Sonst hört man nicht viel. Die Brücke und ihr Rauschen sind längst verstummt.

Etwa 180 Meter des PolceveraV­iadukts sind am 14. August 45 Meter in die Tiefe gestürzt. Mit ihnen Dutzende Fahrzeuge. Die Tragödie nahm 43 Menschen das Leben und einer ganzen Stadt ihre Routine. Einen Monat nach dem Unglück sind noch immer nicht alle Trümmer beseitigt, ganz zu schweigen vom Rest der Brücke. Bürgermeis­ter Marco Bucci will, dass im Oktober mit der Zerlegung der zwei Teile des Viadukts begonnen wird. Ende 2019 soll eine neue Brücke stehen.

Einst ein Allheilmit­tel

Für Iris Bonacci hat die wahre Katastroph­e von Genua erst angefangen, als die Brücke längst eingestürz­t war. Sie ist eine der mehr als 550 Anwohner, die ihre Wohnungen verlassen mussten. Bonacci ist nicht danach, sich im Angesicht des Ortes der Tragödie zu treffen. Aber sie will darüber reden. Weil ihr Haus direkt unter der Brücke steht, kann sie möglicherw­eise nie wieder auf ihre 103 Quadratmet­er zurückkehr­en, die sie erst vor acht Monaten bezogen hat. „Aber Erinnerung­en eines ganzen Lebens sind noch dort“, sagt die Lehrerin. Es macht sie sauer, dass sie ihre liebsten Dinge nicht wenigstens kurz holen kann. Doch Experten stufen beide Seiten der Unglücks-Brücke als bedenklich ein.

Der Viadukt, der einst als Allheilmit­tel der Verkehrspr­obleme der zwischen Meer und Bergen eingepferc­hten Stadt galt, wurde gebaut, da waren die Häuser längst da. Die Konstrukti­on von Architekt Riccardo Morandi wurde 1967 eröffnet. Die Brücke verband die Stadt mit dem Meer, dem Hafen, der zu den wichtigste­n in Südeuropa zählt. Aber auch mit Südfrankre­ich und anliegende­n Regionen in Italien. Wer aus Genua kommt, ist womöglich Tausende Male über den Polcevera-Viadukt gefahren. Je älter die Brücke wurde, desto mehr mussten die in Beton eingepackt­en Stahlseile an den drei Pylonen tragen.

Mariella meidet die Brücke nicht. Sie kommt immer noch her in die Via Walter Fillak, in der sie zwar nicht mehr wohnen kann, aber vertraute Gesichter sieht. „Die ersten Tage nach dem Unglück war diese Stille das Schlimmste“, sagt Mariella, die 38 Jahre dort wohnte. „Man hat ja nicht nur den Verkehr gehört. Sonst liefen immer die Fernseher, die Kinder schrien auf der Straße. Dann war alles tot.“

Bürgermeis­ter Bucci will nicht im Krisen-Narrativ verharren. Er sagt: „Wenn wir die Sache aus einer Höhe von zehntausen­d Metern betrachten, ist in Genua eine Brücke zusammenge­stürzt. That's it.“Auch wenn Bucci abgeklärt klingt: Er ist wohl der Letzte, der die Ereignisse vom 14. August heruntersp­ielen würde. Und die Liste an Problemen, die nun gelöst werden müssen, ist lang. Es fehlt nicht nur die Brücke. Unter dem Viadukt führten wichtige Verbindung­sstraßen entlang, die nun blockiert sind.

Diskret gibt er in Richtung der populistis­chen Regierung in Rom zu verstehen, dass ihn die Streiterei­en um den Wiederaufb­au nicht weiterbrin­gen. Die Fünf-Sterne-Bewegung will die neue Brücke nicht in die Hände des Autobahnbe­treibers Autostrade per l’Italia legen, den sie unmittelba­r

„Italien ist sehr gut darin, unmöglich zu machen, dass es schnell geht.“Unternehme­r Giuseppe Costa

nach der Katastroph­e als Schuldigen benannt hat. In der Krise sieht Bucci sich als Verwalter. „Ich arbeite für die Brücke, nicht für die Politik.“Ende des nächsten Jahres soll eine von Star-Architekt Renzo Piano entworfene Brücke stehen.

Doch an eine neue Brücke in so kurzer Zeit glaubt in Genua so gut wie niemand. „Italien ist sehr gut darin, unmöglich zu machen, dass es schnell geht“, sagt Giuseppe Costa. Der Unternehme­r verwaltet das Aquarium am Hafen. Das Problem aus seiner Sicht: „Die Leute von außerhalb denken, dass Genua nicht mehr erreichbar ist.“Er sieht das an den Besucherza­hlen, die seit dem Unglück im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum um 40 bis 50 Prozent zurückgega­ngen sind. „Genua trauert jetzt wirtschaft­lich“, sagt Costa.

„In gewisser Weise ist der Einsturz für jeden hier ein Opfer“, sagt Ludovica Migliorino. Sie schaut sich an diesem Tag die zerstörte Brücke erstmals aus der Nähe an. So lange sie noch stehen, sind ihre Überreste ein Mahnmal. Ein Rollerfahr­er bleibt am Straßenran­d stehen und hält inne. Eine Frau steigt aus ihrem Wagen, holt zaghaft ihre Kamera heraus. Ein Liebespaar steht an der Reling, Arm in Arm. Wie um sich zu vergewisse­rn, dass nicht doch alles nur ein böser Traum war.

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FOTO: DPA
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43 Menschen kamen bei dem Brückenein­sturz ums Leben. Die Spuren des Dramas sind unverkennb­ar.
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FOTOS: DPA

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