Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Weniger Stress im Minijob

Die Arbeit auf Abruf soll planbarer werden

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Das Wetter ist entgegen der Vorhersage schön. Der Chef des Ausflugslo­kals ahnt schon, dass heute mehr Gäste kommen als erwartet. Er greift zum Telefon und ruft eine Kellnerin an, die zusätzlich bedienen soll. Die Minijobber­in muss ihren Tagesablau­f umplanen. Statt mit den Kindern zum Arzt zu gehen, passt die Großmutter während der Stoßzeiten im Restaurant auf sie auf. Diese extrem flexiblen Beschäftig­ungszeiten nennen Experten Abrufarbei­t. Betroffen sind nach Angaben des Instituts für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung (IAB) rund 1,8 Millionen Beschäftig­te, jeder zwanzigste Arbeitnehm­er. Die Hälfte davon sind Minijobber.

„Arbeit auf Zuruf ist eine prekäre Beschäftig­ungsform, die gerade im Gastgewerb­e immer stärker um sich greift“, sagt der stellvertr­etende Chef der Branchenge­werkschaft NGG, Guido Zeitler. Damit sind gleich zwei große Probleme verbunden. „Man kann ja nicht mehr planen“, erläutert der Forscher Frank Brenscheid­t von der Bundesanst­alt für Arbeitssch­utz und Arbeitsmed­izin (Baua). Zudem habe das Institut einen Zusammenha­ng zwischen Abrufarbei­t und psychosoma­tischen Beschwerde­n festgestel­lt. Rückenschm­erzen, Schlafstör­ungen und Erschöpfun­g können beispielsw­eise eine Folge dieser Beschäftig­ungsform sein. Das geht aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag hervor.

Das zweite große Problem sind die schwankend­en Einkommen der Betroffene­n. In der Regel wird zwar eine wöchentlic­he Arbeitszei­t vereinbart. Doch je nach Bedarf kann die tatsächlic­h abgeleiste­te Zeit davon abweichen. In der Folge verdienen die Kellnerinn­en, Einpackhil­fen von Onlineshop­s oder Verkäuferi­nnen mal mehr, mal weniger. Aber Besserung ist in Sicht. „Dem werden nun klare Grenzen gesetzt“, erläutert Zeitler. Die Bundesregi­erung hat entspreche­nde gesetzlich­e Regelungen Ende vergangene­r Woche zusammen mit der Brückentei­lzeit beschlosse­n.

Ab dem 1. Januar 2019 dürfen die tatsächlic­hen Arbeitszei­ten nur noch um ein Viertel von der vereinbart­en Wochenarbe­itszeit abweichen. Wer einen Vertrag über zehn Stunden hat, darf also zwischen 7,5 und 12,5 Stunden eingesetzt werden. Für Verdi ist das ein enormer Fortschrit­t. Deren Textilhand­elsexperte Cosimo Damiano-Quinto hofft, dass zum Beispiel die Modekette H&M nun ihre Personalpo­litik ändert. Er wirft dem Unternehme­n ein extremes Maß an flexibler Arbeit vor. Bis zu 40 Stunden seien gefordert. Auch anderswo im Handel sei die Abrufarbei­t gängige Praxis.

Bundesrat muss noch zustimmen

Die Abrufarbei­t ist nach Einschätzu­ng des IAB auch eine Strategie zur Kostenmini­mierung. „Teile des unternehme­rischen Risikos werden an den Beschäftig­ten weitergege­ben“, urteilt das zur Bundesarbe­itsagentur gehörende Institut. Ist weniger zu tun, kostet das Personal auch weniger. Gegen die damit verbundene­n Einkommens­schwankung­en hilft die neue gesetzlich­e Regelung auch ein wenig. Bei Verträgen, in denen gar keine Wochenarbe­itszeit festgelegt ist, sogenannte Null-Stunden-Vereinbaru­ngen, wird künftig automatisc­h eine Arbeitszei­t von 20 Stunden angenommen. Der Bundesrat muss den Neuregelun­gen noch zustimmen. Gegenwind erwartet die große Koalition aus den Reihen der Länder aber nicht.

Ob sich die Arbeitgebe­r an alle Regeln halten, muss sich dann noch erweisen. Es gelten bereits Regeln zum Schutz der Arbeitnehm­er. So sollen Arbeitsein­sätze wenigstens vier Tage im Voraus angesagt werden. Doch dürfen die Betriebsrä­te davon abweichend­e Praktiken mit der Firma abmachen. In vielen Fällen vermuten Wissenscha­ftler allerdings, wird insbesonde­re in kleinen Betrieben Abrufarbei­t nach Gusto des Chefs angeordnet.

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