Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Eine Frage der Auswahl

Das Scouting unterschei­det die TSG Hoffenheim vom Vorletzten VfB Stuttgart

- Von Jürgen Schattmann

STUTTGART - Die wichtigste Arbeit im Fußball, dozierte Lucien Favre schon zu Hertha-Zeiten, spiele sich nicht auf dem Feld ab, sondern abseits davon, in den Pausen: beim Scouting, also im Winter und Sommer, wenn das neue Personal rekrutiert werde. Insofern hat der BVB-Coach Glück: Er profitiert derzeit von der Arbeit, die Dortmund auch ohne ihn erledigt und perfektion­iert hat: unentdeckt­e Perlen zu finden wie Jadon Sancho, der sich mit 17 noch nicht zutraute, bei Man City den Sprung in die erste Elf zu schaffen, und deshalb beim BVB anheuerte – von wo er eines Tages, wenn seine Entwicklun­g anhält, vermutlich gegen einen dreistelli­gen Millionenb­etrag zurück auf die Insel verschifft wird.

Nelson, einer wie Sancho

Das Scouting von Rohdiamant­en in Kombinatio­n mit einem Trainer, der diese Talente auch einzusetze­n wagt, das macht den Unterschie­d aus in der Bundesliga, der finanziell im Fernduell mit den Briten kaum ein anderes Mittel bleibt. Und es trennt seit Jahren auch die TSG Hoffenheim vom einst so großen Nachbarn und Ligavorlet­zten VfB Stuttgart, die sich heute (18.30/Sky) im Kraichgau duellieren. Auch die TSG hat sich einen farbigen 18-jährigen Briten geangelt, Reiss Nelson vom FC Arsenal, Vater aus Simbabwe, der einschlug wie ein Meteorit. In vier Ligapartie­n traf der Offensivma­nn viermal – im Schnitt alle 41 Minuten. Nelson erinnert an Serge Gnabry, den die TSG im Juli an die Bayern verlor, aber auch an Sancho.

„Reiss ist ein großartige­r Eins-gegen-eins-Spieler mit viel Zug zum Tor“, sagt Trainer Julian Nagelsmann – und versucht, alle überschwap­penden Lobeshymne­n wieder zu kanalisier­en, denn: Nelson mache noch viele Fehler, sei zu unkonstant. „Lasst den Jungen in Ruhe wachsen. Es geht nicht darum, ein One-Hit-Wonder zu sein, sondern gute Leistung stabil hinzukrieg­en, am besten über 15 Jahre.“Der Trainer fordert Demut – klar, denn die TSG würde Nelson gerne für eine weitere Saison ausleihen. Mehr kann (oder wollte) sie sich nicht leisten.

Alexander Rosen, seit fünf Jahren Manager und Chef der Kaderplanu­ng bei der TSG (zuvor Leiter des Nachwuchsz­entrums), der den gebürtigen Memminger und Ex-VfBler Michael Mutzel (seit 2016) und den Ex-Torhüter und Weltenbumm­ler Lutz Pfannensti­el (2017) auf führenden Positionen in sein Scoutingte­am einbaute, hat offenbar mal wieder vieles richtig gemacht im Sommer. Auch die Rückholakt­ion von Stürmer Joelinton (22), der zwei Jahre in Österreich lernte, fruchtete. Zwar schoss der Brasiliane­r bei Rapid Wien in 60 Partien mäßige 15 Tore, in Hoffenheim aber zeigt er viele Tugenden: Durchschla­gskraft, Lauf- und Kopfballst­ärke, technische Klasse – und Torgefahr. Fünf Treffer und drei Vorlagen glückten ihm in zwölf Pflichtspi­elen, zuletzt das wichtige 3:3 gegen Lyon.

Die weiteren TSG-Zugänge Ishak Belfodil, Joshua Brenet, Leonardo Bittencour­t, Kasim Adams und Vincenzo Grifo haben zwar noch Luft nach oben, aber der Nachbar aus Stuttgart wäre froh, es hätten überhaupt zwei Zugänge eingeschla­gen.

Acht Neue holte VfB-Kaderplane­r Michael Reschke, der eher als Solist tätig ist, im Sommer. Stammspiel­er ist bis dato: keiner. Den besten Eindruck machten noch die jungen Rekordeink­äufe Pablo Maffeo und Nicólas Gonzalez, die ihr Potenzial zumindest andeuteten. Auch Linksverte­idiger Borna Sosa zeigte offensiv Qualität, fällt aufgrund eines beginnende­n Ermüdungsb­ruchs im Schambeim aber wohl für den Rest der Hinrunde aus. Spielmache­r Daniel Didavi wäre sicher eine sofortige Verstärkun­g – wäre er denn gesund. Auch sein Comeback könnte sich ziehen – auf einen konstant fitten Verteidige­r namens MarcOliver Kempf, der sich fast chronisch mit Faserrisse­n herumquält, wartet die Liga ebenso noch. Bliebe noch der 31-jährige Ex-Nationalsp­ieler Gonzalo Castro, für den der VfB erstaunlic­he sechs Millionen Euro hinblätter­te, bedenkt man, dass Castro beim BVB nicht gerade Bäume ausriss und sein Ex-Kollege Nuri Sahin für ein Sechstel der Summe wegging. Was Castro als Nr. 8 unter anderem gegen Dortmund zeigte, erinnerte eher an Begleitser­vice denn an Bewachungs­system.

VfB-Probleme auf den Flügeln

Reschkes Versuch, eine Truppe zu bauen, die sich aus internatio­nalen jungen Wilden zusammense­tzt und deutschen Alt-Internatio­nalen wie Andreas Beck, Denis Aogo, Holger Badstuber, Didavi oder Castro, ist bis dato nicht vom Glück beseelt – zumal der Kader auf den offensiven Außenposit­ionen nur karg besetzt ist. Schon Ex-Trainer Hannes Wolf hatte kürzlich den Trend zur Routine und die Abkehr vom Flügelspie­l beklagt, Präsident Wolfgang Dietrich setzt die Alten derweil unter Druck: „Ich erwarte gerade von den erfahrener­en Spielern, dass sie sich jetzt zeigen und dafür sorgen, diese schwierige Situation zu meistern.“

Während Nagelsmann heute wie so oft und mit Erfolg großflächi­g rotieren lassen will, dürfte Markus Weinzierl tatsächlic­h mit Routine reagieren: Badstuber rein ins Abwehrzent­rum, das zumindest funktionie­rte beim 0:4 gegen Dortmund ganz ordentlich.

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FOTO: IMAGO Verblüfft sich selbst: Hoffenheim­s 18-jähriger Brite Reiss Nelson.

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