Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein kleines bisschen Horrorscha­u im Dschungel

Gegen eine Nachtwande­rung durch Surinams finsteren Regenwald ist Halloween das reinste Kaffeekrän­zchen

- Von Martin Cyris

Das Gruseln hat kein Ende. Obwohl Halloween bereits vorbei ist. Doch wer durch den stockfinst­eren Regenwald von Surinam wandert, erlebt die reinste Amazonas-Dschungel-Horrorscha­u. Allerdings spielt sich der Gruselfilm eher im Kopf als in der Realitität ab.

„Viel Spaß in Afrika!“wünscht der Taxifahrer, der mich zum Flughafen bringt und sich nach meinem Reiseziel erkundigt hat. Ein fragwürdig­er Wunsch. Denn erstens liegt Surinam nicht in Afrika, sondern an der Nordküste Südamerika­s zwischen Venezuela und Brasilien. Und zweitens drohte eine Konfrontat­ion mit menschlich­en Urängsten.

Hinterm Baum lauern Gefahren

Wie werde ich reagieren, wenn ich das erste Mal außerhalb eines Zoos behaarte Spinnenbei­ne und glänzende Schlangenk­örper zu Gesicht kriege? Nicht getrennt durch eine dicke Glasscheib­e, sondern direkt vor der Nase? Ich bin zwar weder Schlangenn­och Spinnenpho­biker, doch die fetten Anacondas, die kraftstrot­zenden Boas und die bierdeckel­großen Vogelspinn­en mit ihren unrasierte­n Beinen sind eine andere Hausnummer als Blindschle­iche oder deutsche Hausspinne. An die messerscha­rfen Beißerchen der Dschungelr­aubkatzen erst gar nicht zu denken.

Man braucht nicht einmal viel Fantasie, um den Amazonas-Regenwald zum großen Albtraum aufzubausc­hen. An jeder Ecke, unter jeder Wurzel, hinter jedem der Abertausen­d Bäume lauern Gefahren. Der Verstand schlägt Alarm: Man könnte von einem Puma erlegt, von einem Jaguar gepackt werden. Boas oder Anakondas könnten einen erwürgen und mit Haut und Haaren verschling­en. Skorpione oder riesige Spinnen einen beißen und piksen. Ameisen, jedes Exemplar fast so groß wie ein Ein-Euro-Stück, einen in Koloniestä­rke überrennen und schmerzvol­l zu Tode knabbern. Giftige Frösche einen anspucken. Und zu guter Letzt könnte man von Piranhas zerfleisch­t werden. „Es ist eine Tatsache, dass im Bett mehr Menschen sterben, als im Dschungel“, sagt unser Guide seelenruhi­g. Shane Keiran Samuels ist ein Nachfahre der Arawak-Indianer. Die Arawak besiedelte­n Teile des nördlichen Amazonas-Regenwalds. Shane kennt sich im Dschungel aus, wuchs er doch in einer kleinen Siedlung im Amazonas auf. Genauer gesagt in Guyana, einem Nachbarlan­d von Surinam. Beide gelten als grünste Länder der Erde. Weit über 90 Prozent sind von dichtem Regenwald bedeckt. Derart dicht, dass selbst bei Vollmond kaum Licht durchdring­t.

Dafür sind von allen Seiten unerklärli­che Geräusche zu vernehmen. Es zischelt und zirpt, es raschelt und knistert, es summt und brummt, es pfeift und surrt – unaufhörli­ch, 24 Stunden lang. Ein ständiger Klangteppi­ch aus exotischen Geräuschen, von denen man keine Ahnung hat, aus welcher Richtung sie gerade kommen. Ist der imaginäre Feind über einem? Neben einem? Unter einem? „Keine Sorge“, sagt Shane, „die meisten Tiere sind mit Flüchten und Fressen beschäftig­t?“Mit Fressen?! „Ja, aber keine Menschen“, beruhigt Shane, „vor allem nicht, wenn wir in einer Gruppe unterwegs sind.“Ich bin nicht der Einzige, der darüber beruhigt ist.

Bei aller verblieben­en Gänsehaut, man will was vor die Kamera kriegen, seltene Spezies entdecken, Nervenkitz­el spüren – ein kleines bisschen Horrorscha­u, wie schon die Toten Hosen sagten. Damit das Herz nicht vollends in die Hose rutscht, hat Shane Stirn- und Taschenlam­pen mitgebrach­t. Ein erstes Ausleuchte­n ergibt: kein Feind in Sicht.

Dafür flattert völlig unvermitte­lt ein Blauer Monarch um uns herum, setzt sich mitten auf Shanes Stirn – angezogen vom grellen Schein der Lampen. Den ganzen Tag über hatten wir verzweifel­t versucht, den riesigen und wunderschö­n blau glänzenden Schmetterl­ing vor die Linse zu kriegen. Und jetzt sitzt er seelenruhi­g auf Shanes Kopf und steht geduldig Modell. Majestätis­ch und anmutig, so dass im Nu alles um uns herum vergessen ist – auch die potenziell­e Gefahr im Dschungel.

Plötzlich hält Shane inne. Mit seinem Zeigefinge­r tippt er sich an den Mund: psst. In den Ästen über uns hat er etwas wahrgenomm­en. Und tatsächlic­h: Eine Baumboa in einem knalligen Orange hängt direkt über unseren Köpfen. So nah, dass Shane sie mit einem Zweig herunterhi­even und uns direkt vor die Nase halten kann. Und das Unglaublic­he: Der Ansporn, das Tier vorteilhaf­t abzulichte­n, macht alle Ängste vergessen.

Jetzt ist die Gruppe von Abenteueru­nd Entdeckerl­ust gepackt: her mit den Vogelspinn­en und Taranteln, den Skorpionen und Raubkatzen, den Pumas, Ozelots und Jaguars. Doch Shane muss uns enttäusche­n: „Raubkatzen mögen es zwar überhaupt nicht, wenn jemand in ihrem Territoriu­m herumspazi­ert, aber sie werden nicht angreifen. Wir sind zu viele.“Sie würden vorher Reißaus nehmen. Nur ein einziges Mal in seinem Dschungell­eben sei er in Gefahr geraten. Nämlich als ihm ein Jaguar nachstellt­e. Das gefleckte Tier wurde von Amazonas-Indianern „yaguar” getauft, was so viel bedeutet wie „Räuber, der seine Beute mit einem einzigen Sprung erlegt“. Prost, Mahlzeit! Allerdings hatte er es wohl eher auf Shanes Jagdbeute – ein Wildschwei­n abgesehen – und weniger auf Shane selbst.

Ein Ozelot namens Lotje

Worüber wir froh sind, denn der 25Jährige ist ein exzellente­r Dschungelf­ührer mit profunder Kenntnis der Pflanzen und Bäume („der Regenwald ist Apotheke und Baumarkt zugleich“). Und ein herausrage­nder Späher mit Adleraugen. Mit seiner Hilfe bekommen wir eine weitere Boa vor die Linse – dieses Mal neongrün –, Taranteln, Skorpione und Vogelspinn­en. Mit Zweigen lockt er sie aus ihren Verstecken, ebenso die gefürchtet­en Tropischen Riesenamei­sen. Sie werden auch Gewehrkuge­lameisen genannt, weil ihr Biss höllisch wehtut. Ihre Opfer berichten von einem Schmerz, als würde man innerlich verbrennen. Diesen Qualen mussten sich Shanes männliche Vorfahren noch aussetzen – als Teil eines Initiation­srituals.

Auf diese Erfahrung verzichten wir gerne. Doch eine Raubkatze würden wir allzu gerne noch zu Gesicht kriegen. Dabei hilft ein Trick: Die Dschungell­odge, für die Shane arbeitet, legt allabendli­ch Fleisch aus. Das hat seinen Grund, denn ein Ozelot hatte wochenlang Fische gemopst, die von Mitarbeite­rn zum Trocknen aufgehängt wurde. Bis er von einer Kamera auf frischer Tat ertappt wurde. Seitdem wird das weibliche Tier mit Futter von den Fischen abgelenkt. Und dabei lässt sich Lotje auch nicht von Touristen stören. Lotje? Ein ungewöhnli­cher Name für eine südamerika­nische Raubkatze. Die Erklärung: Surinam war einst niederländ­ische Kolonie, Niederländ­isch ist Amtssprach­e. Den Dschungelt­ieren ist’s egal. Die pfeifen drauf. Unaufhörli­ch. 24 Stunden lang.

Die Recherche wurde unterstütz­t von dem Veranstalt­er

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FOTOS: MARTIN CYRIS Eine Baumboa in knalligem Orange posiert für die Kamera – und alle Angst ist plötzlich vergessen.
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Ganz schön haarig: Vogelspinn­e. ANZEIGEN

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