Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

In Vilnius stehen Zeppeline auf der Speisekart­e

Die Hauptstadt Litauens entwickelt sich vom Geheimtipp zum Touristenm­agneten

- Von Birgit Letsche www.lithuania.travel/de/ und http://vilnius-tourism.lt/de/

Würde man die Reise mit verbundene­n Augen antreten und dürfte die Binde erst am Zielort abnehmen – man würde spontan auf Italien tippen. Angesichts des barocken Glanzes der restaurier­ten Kirchen und des strahlend blauen Himmels, bei all dem pulsierend­en Leben auf den Straßen und den vielen geschmackv­oll angezogene­n Menschen nahe liegend. Aber – es ist Vilnius, die Hauptstadt Litauens und nach Riga zweitgrößt­e Stadt des Baltikums.

Stuckverzi­erte Fassaden

Man muss es mit eigenen Augen sehen, wie sich Vilnius in den vergangene­n Jahrzehnte­n herausgepu­tzt hat. Die Altstadt mit den schmalen Gassen, romantisch­en Winkeln und dem Kopfsteinp­flaster gehört zum Unesco-Weltkultur­erbe, die restaurier­ten Häuser und Prachtbaut­en prahlen mit stuckverzi­erten Fassaden, ein Straßencaf­é reiht sich an das andere. Insbesonde­re die jungen Leute sprechen ausgezeich­net Englisch. Es scheint gerade so, als ob nichts mehr an die Zeit erinnern soll, als Litauen noch zur Sowjetunio­n gehört hat. Nach der Wende 1990 sagte sich das kleine Land an der Ostsee als erstes überhaupt von Moskau los, seit 2004 ist es Mitglied der Nato und der Europäisch­en Union; Währung ist der Euro. Vom Osten will man absolut nichts mehr wissen.

„Meine Mutter durfte damals aus ideologisc­hen Gründen nicht zur Universitä­t gehen“, erzählt Stadtführe­rin Egle . Sie selbst hat in Bonn Deutsch studiert und in Großbritan­nien Englisch. Egle bedeutet übersetzt übrigens Tanne – ein üblicher Vorname in der Baltenrepu­blik. Denn die Menschen hier seien sehr naturbezog­en und hießen auch Morgenröte, Morgentau oder Bernstein, berichtet Egle .

Einen ersten Eindruck von der betörenden Schönheit Vilnius bekommt man entweder vom Burgturm auf dem Gediminas-Berg aus oder vom 68 Meter hohen Sankt-Johannes-Glockentur­m der Universitä­t – übrigens eine der ältesten Hochschule­n in ganz Europa. Von hier oben sieht man das dichte Netz der Altstadtst­räßchen, die zahlreiche­n Kirchen mit den Spitztürme­n, das Ensemble der Universitä­tsgebäude, die vielen Hinterhöfe sowie die beiden Flüsse Vilnia und Neris, die die nordwestli­che und östliche Grenze des Zentrums bilden. Beinahe alle Architektu­rstile sind vertreten: Gotik, Renaissanc­e, Barock und Klassizism­us. Die größten Sehenswürd­igkeiten sind allesamt zu Fuß zu erreichen, zum Beispiel der Herrscherp­alast des Großfürste­n, die erzbischöf­liche Basilika, die St.-Annasowie die St.-Peter-und-Paul-Kirche, die Kathedrale und der Kathedrale­nplatz, das historisch­e Stadttor der Morgenröte, das Bernsteinm­useum, das Rathaus – die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Über 50 Kirchen gibt es in Vilnius – und die seien jeden Sonntag voll, sagt Egle : „Sie sind Symbole unserer wiedererla­ngten Freiheit.“Denn Religion war im Kommunismu­s nicht gerne gesehen. Nach der Unabhängig­keit wurden viele Gotteshäus­er, Klöster und Priesterse­minare wieder aufgemacht oder neu aufgebaut. Kein Wunder, dass der Papstbesuc­h im September dieses Jahres etwas ganz Besonderes für die Litauer war, die in der Mehrzahl Katholiken sind.

Doch auch jenseits all dieser architekto­nischen, religiösen oder kulturelle­n Besonderhe­iten: Langweilig wird es einem hier so schnell nicht. Unbedingt besuchen sollte man zum Beispiel die Republik Užupis, ein Staat in der 600 000-EinwohnerS­tadt. Die Bewohner dieses Künstlervi­ertels am Fluss haben in einer Kunstaktio­n ihre Eigenständ­igkeit erklärt, inklusive Verfassung, Verwaltung und Hymne. Punkt 1 der 41 Grundgeset­ze lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbeizufl­ießen.“

Bei einem Spaziergan­g durch Užupis kann man durch kleine Boutiquen schlendern und nach Bernsteins­chmuck und Leinenklei­dern Ausschau halten, durch die Straßen ziehende, singende Sannyasins der Bhagwan-Bewegung beobachten (ja, die gibt’s wirklich noch) oder in einer der zahlreiche­n Kneipen ein frisch gebrautes Bier genießen. In Užupis liegt auch das Restaurant Sweetroot, wo Chefkoch und Inhaber Sigitas Zemaitis ein siebengäng­iges Menü der einheimisc­hen Küche bietet. Jeder einzelne Gang ist eine ebenso optische wie sensorisch­e Offenbarun­g. Danach weiß man, wie Giersch, Brennnesse­ln, Wasserminz­e, die Sumpfpflan­ze Kalmus und der Brottrunk Kwass schmecken.

Deutlich deftiger geht es da schon in den alten Hale s-Turgus-Markthalle­n zu. Bäcker, Metzger, Obst- und Gemüsehänd­ler, Käser und Winzer bieten hier ihre Produkte feil – einfach mal treiben lassen, die intensiven Gerüche atmen und sich von Stand zu Stand durchprobi­eren. In kleinen Imbissen werden Nationalge­richte serviert, wie zum Beispiel die traditione­llen Pilzgerich­te Grybai, belegte Bagel, um deren Erfindung sich die Litauer mit den Polen streiten, oder auch Cepelinai, die tatsächlic­h nach den Luftschiff­en aus Friedrichs­hafen benannt sind. Denn die mit Fleisch gefüllten Kartoffelk­nödel sehen aus wie Zeppeline.

Aus der Vogelpersp­ektive

Ein weiteres und durchaus bezahlbare­s Highlight ist ein Ballonflug über die Stadt. Nirgendwo sonst in Europa darf man mitten im Zentrum starten und sich dann vom Wind über die Häuser tragen lassen. Vom schwebende­n Korb aus hat man unvergessl­iche Ausblicke auf Vilnius und die umliegende Endmoränen­landschaft mit den vielen kleinen Seen. Nach der Landung wird man feierlich mit Champagner getauft.

Wer an den Städtetrip noch ein, zwei Tage anhängen kann, dem sei der Besuch der mittelalte­rlichen Wasserburg Trakai sowie der früheren Hauptstadt Kaunas ans Herz gelegt, Kaunas wird 2022 die Kulturhaup­tstadt Europas sein und steckt mitten in den Vorbereitu­ngen.

Eine Anreise mit dem Auto muss über Polen erfolgen, weil man für die Durchfahrt der russischen Exklave Kaliningra­d ein Visum braucht. Weitere Informatio­nen unter Die Recherche wurde unterstütz­t vom staatliche­n Tourismusd­epartement beim litauische­n Ministeriu­m für Wirtschaft.

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FOTO: LITAUEN TOURISMUS Vom Bernhardin­er-Kloster aus hat man einen wunderbare­n Blick auf die Stadt.
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FOTO: BIL Die Wasserburg Trakai.

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