Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Durchbruch beim Brexit
Buhrufe von Rechtsaußen-Parlamentariern im EU-Parlament
Großbritannien hat am Dienstag einen Durchbruch in den Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union verkündet. Die Unterhändler hätten sich auf den Entwurf eines Austrittsabkommens geeinigt, teilte die britische Regierung am Abend mit. Zuvor hatte Premierministerin Theresa May (Foto: AFP) ihre Minister in Einzelgesprächen im Regierungssitz Downing Street Nr. 10 empfangen. Heute Nachmittag soll das Kabinett in London zusammenkommen, um den Text zu billigen. Eine Bestätigung aus Brüssel gab es zunächst allerdings nicht. Dennoch wurde für den heutigen Mittwoch eine Sondersitzung der Botschafter der 27 verbleibenden EU-Länder angesetzt.
STRASSBURG - Ovationen, wie zuletzt beim europäischen EVP-Parteitag in Helsinki, gab es für Angela Merkel im Europaparlament in Straßburg nicht. Die lauten Buhrufe aus der ultrarechten Ecke, die ihre Rede begleiteten, zeigten vielmehr erneut, wie zerrissen Europa bei vielen der Themen ist, die die Kanzlerin am Dienstag ansprach. Merkel verteidigte ihren Migrationskurs.
Sie stehe „mit Freude, aber auch mit Dankbarkeit vor dem größten demokratischen Parlament der Welt“, erklärte Merkel. Nicht einmal dieser freundliche Eröffnungssatz gefiel allen im Plenum. Denn in den Reihen der britischen Unabhängigkeitspartei, aber auch bei der polnischen Regierungspartei PiS, der ungarischen Fidesz oder der italienischen Lega würde man die Uhr am liebsten zurückdrehen und das Europa der Bürger zugunsten eines Europas der Nationen aufgeben.
„Beispiellose Kühnheit“
Es war sicher kein Zufall, dass Merkel ihre Rede mit einem Zitat von Walter Hallstein einleitete, der von 1958 bis 1962 der erste und bislang einzige deutsche Kommissionspräsident war und die europäische Einigung eine „beispiellose Kühnheit“genannt hatte. Der CSU-Politiker Manfred Weber, derzeit Chef der konservativen Fraktion im Europaparlament, macht sich bereit, in Hallsteins Fußstapfen zu treten. Er wurde vergangene Woche in Helsinki zum Spitzenkandidaten der europäischen Konservativen für die Europawahl gekürt und dabei von Merkel deutlich unterstützt. Ob er tatsächlich Kommissionspräsident werden kann, ist damit aber noch nicht ausgemacht.
Die Nach-Merkel-Ära hat begonnen. Wenn in einem Jahr die Staatsund Regierungschefs dem neuen Kommissionspräsidenten ihren Segen geben, ist die einst mächtigste Frau Europas vielleicht gar nicht mehr Mitglied der Runde. Deshalb war erwartet worden, dass sie ihre Rede vor dem Europaparlament dazu nutzen würde, ihr europapolitisches Vermächtnis bekanntzugeben. Doch die Zuhörer in dem ausnahmsweise gut gefüllten Saal wurden enttäuscht. Merkel arbeitete die politische Agenda ab wie an jedem anderen Arbeitstag in Berlin.
Ihr Hauptanliegen ist es, Europas Gewicht in der Außenpolitik zu stärken. Ein „Europäischer Sicherheitsrat“nach dem Vorbild des UN-Sicherheitsrates soll die Entscheidungen der Mitgliedsstaaten vorstrukturieren und dadurch den Rat der Regierungen handlungsfähiger machen. In diesem Gremium sollen die Mitgliedsstaaten der Reihe nach vertreten sein. Die schnelle Eingreiftruppe soll ausgebaut werden, mittelfristig eine „echte europäische Armee“entstehen. Mit dieser Forderung zog Merkel erneut den Hass der Ultrarechten und Euroskeptiker im Plenum auf sich. Als Parlamentspräsident Antonio Tajani versuchte, die empörten Reaktionen zu dämpfen, sagte Merkel lediglich: „Dadurch lasse ich mich nicht irritieren – ich komme schließlich aus einem Parlament.“
Zum in Europa besonders umstrittenen Thema Migration sagte die Kanzlerin: „Wir sind in der Frage noch nicht so geeint, wie ich mir das wünschen würde. Im Rückblick war es leichtfertig, erst den gemeinsamen Schengenraum zu schaffen und erst jetzt über Ein- und Ausreiseregister zu reden.“Ihren Entschluss, im Sommer 2015 die deutschen Grenzen im Alleingang zu öffnen, verteidigte sie erneut. „Sieben Millionen Flüchtlinge leben außerhalb Syriens, im Libanon, Jordanien und der Türkei. Wir haben nicht ausreichend darauf geachtet, dort ihre Lebensbedingungen zu sichern. Nun hat ganz Europa davon eine Million, 1,5 Millionen aufgenommen. Glauben Sie eigentlich, dass uns das in die Handlungsunfähigkeit bringen kann?“Der Protest gegen ihre Worte zeige, dass „ich den Kern getroffen habe. Das ist schön und ehrenvoll.“
In einer Reihe mit Brandt
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte, er könne Merkels Positionen zu hundert Prozent unterschreiben. Es sei allerdings bedauerlich, dass der Saal heute bei ihrem Auftritt so viel voller und der Applaus so viel lauter sei als an den Tagen, als die Regierungschefs von Malta und Estland so ziemlich dasselbe vor den Abgeordneten vertreten hätten. Parlamentspräsident Tajani konterte, es seien beim Auftritt der deutschen Kanzlerin auch deutlich mehr Kommissare erschienen als zu anderen Anlässen.
Manfred Weber stellte Merkels Europapolitik in eine Reihe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl. „Ich bin die erste Generation auf diesem Kontinent, die von sich sagen kann, dass sie in Frieden und Freiheit leben darf. Undenkbares ist gelungen – auch dank des deutschen Beitrags und Ihres Beitrags. Wir müssen Europa Erfolge gönnen, nur dann werden wir die Herzen der Menschen erreichen.“Es klang wie ein Abgesang und eine Bewerbungsrede zugleich.