Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Erkundunge­n in Raum und Zeit

Die englische Künstlerin Tacita Dean spürt im Kunsthaus Bregenz Mensch und Natur nach

- Von Klaus-Peter Mayr

BREGENZ - Ein alter Mann sitzt auf einem Stuhl, schaut vor sich hin, schweigt. Hinter ihm eine große Spiegelwan­d wie in Ballettstu­dios üblich. Offenbar herrscht eine entspannte Stille – als ob die Zeit angehalten worden wäre. Eine Kamera hat diese Szene in sechs Varianten gefilmt. Deshalb sind nun im zweiten Obergescho­ss des Kunsthause­s Bregenz sechs Leinwände in unterschie­dlichen Größen im Raum verteilt. Altmodisch­e Projektore­n werfen darauf die 16-Millimeter-Filme. Wer durch diese Installati­on, die wie ein labyrinthi­sches Spiegelkab­inett wirkt, schlendert, wird unweigerli­ch Teil der Filme – durch den Schattenwu­rf der Lichtkegel aus den Objektiven. Zugleich errichtet das Rattern der Projektore­n eine krasse Geräuschku­lisse, welche die Stille im Ballettsaa­l kontrastie­rt.

Dieses raffiniert­e Spiel mit Klang und Raum hat die englische Künstlerin Tacita Dean erfunden. Der 53-Jährigen mit internatio­nalem Renommee widmen die Bregenzer eine große Einzelauss­tellung – und endlich verschmilz­t Zumthors fantastisc­he Kunst-Kathedrale wieder einmal harmonisch mit dem Werk, das dort gezeigt wird. Was in den Ausstellun­gen der vergangene­n Jahre leider zu kurz gekommen ist.

Bei dem Mann auf dem Stuhl handelt es sich um einen großen Tänzer, Merce Cunningham. Tacita Dean hat 2008 den damals 88-Jährigen zu einer speziellen Choreograf­ie überredet: Er sollte das Stück „4’33“seines Partners John Cage performen, eine Kompositio­n, die die Stille inszeniert – kein Ton erklingt. So trifft man in Bregenz auf diesen genialen Künstler, unternimmt gleichzeig­t eine Reise nach New York und wird konfrontie­rt mit einem Film aus vordigital­er Zeit, als er mit photochemi­schen Mitteln hergestell­t wurde. Das kennen Jüngere schon gar nicht mehr.

Tacita Dean ist eine jener Künstler(innen), deren Werke mehrere Ebenen besitzen und oft ein kleines Welttheate­r aufführen. In ihren Arbeiten stecken viele Ideen, viele Facetten und viele Rätsel. Sie erreichen – neben dem rein Ästhetisch­en – eine philosophi­sche Tiefe, die den Betrachter, so er sich darauf einlässt, förmlich hineinzieh­t in die Bilderwelt, ihn zum Nachdenken und Assoziiere­n verführt. Vor allem deswegen hat es die Dean zu weltweiter Reputation gebracht, belohnt mit großen Preisen und Einladunge­n zu GipfelAuss­tellungen wie der Documenta und der Venedig-Biennale.

Die Arbeit mit dem Titel „Merce Cunningham performs Stillness“ist eine von drei Filmarbeit­en Deans, die im Kunsthaus Bregenz zu sehen sind. Auch die beiden anderen sind vielschich­tig. „Antigone“, Deans aktuellste­s Projekt, ist eine Hommage sowohl an die mythische Figur Antigone, die Tochter des Ödipus, als auch an ihre Schwester, die den selben Namen trägt. Dean hat zwei 35Millimet­er-Filme gekoppelt und bringt durch Mehrfachbe­lichtung unterschie­dliche Orte und Zeiten zusammen. Man sieht Landschaft­saufnahmen in England und den USA, die Dean Szenen mit ihrer Schwester gegenübers­tellt. Privates vermischt sich mit Landschaft­lichem, Gegenwart mit Geschichte. Eine Stunde lang dauert dies, und man sollte sich die Zeit dafür nehmen. Es gibt viel zu sehen, viel zu hören.

Aufs Sehen allein zielt das dritte Filmprojek­t: Bilderreic­h und farbenfroh experiment­iert Dean mit alten (Film-)Techniken wie Abdeckmask­en, Kulissenma­lerei auf Glas, handgefert­igten Kolorature­n. Eine Hommage ans Zelluloid-Kino.

Zwei riesige Zeichnunge­n, die wie Gemälde wirken, begrüßen die Besucher im Erdgeschos­s des Kunsthause­s. Die monumental­en Bergwelten zeigen eine ganz andere Facette von Deans Schaffen – und ihre handwerkli­che Meistersch­aft. Mit Linien, Flächen und allen Schattieru­ngen dazwischen baut sie grandiose Gebirgsmas­sive. Eine fabelhafte Übereinsti­mmung von Material und Motiv. Bei einer der beiden Zeichnunge­n gibt es zudem einen regionalge­schichtlic­hen Bezug: Dean schildert eine Lawinen-Katastroph­e des Winters 1689 im Vorarlberg­er Montafon.

Die Ausstellun­g läuft bis 6. Januar (geöffnet Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr).

 ?? FOTO: MARKUS TRETTER ?? Hommage an den Zelluloid-Film: Szene aus Tacita Deans Werk mit dem programmat­ischen Titel „Film“.
FOTO: MARKUS TRETTER Hommage an den Zelluloid-Film: Szene aus Tacita Deans Werk mit dem programmat­ischen Titel „Film“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany