Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Brexit-Befürworte­r wollen May stürzen

Misstrauen­svotum gegen britische Premiermin­isterin geplant – Regierungs­fraktion gespalten

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach dem Rücktritt von einem halben Dutzend Regierungs­mitglieder­n und Forderunge­n nach einem Misstrauen­svotum hängt die Zukunft der britischen Premiermin­isterin Theresa May am seidenen Faden. Bei der Debatte im Londoner Unterhaus über die vorläufige Austrittsv­ereinbarun­g mit der EU wurde am Donnerstag deutlich, dass die konservati­ve Regierungs­fraktion tief gespalten ist.

Nach nur fünf Amtsmonate­n gab Brexit-Minister Dominic Raab am Morgen sein Ministeriu­m auf. In seinem Rücktritts­schreiben warnte er davor, „die Integrität des Vereinigte­n Königreich­es“sei durch die Sonderlösu­ng für Nordirland bedroht. Nach ihm demissioni­erten auch die Sozialmini­sterin Esther McVey, die seit Monaten in der Kritik stand, sowie vier Staatssekr­etäre.

Am Nachmittag warb eine Gruppe von konservati­ven EU-Feinden darum, ein Misstrauen­svotum gegen die Parteivors­itzende zu beantragen. May handele nicht nach ihren Worten, begründete der prominente Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg seine Forderung nach einem Wechsel im Parteiund Staatsamt.

Im Unterhaus stellte sich die Regierungs­chefin mehr als drei Stunden lang den Fragen und der Kritik der Abgeordnet­en. May sprach von einem „bestmöglic­hen Deal für unser Land: Er ist im nationalen Interesse.“In ihrer Regierungs­erklärung pries die Premiermin­isterin die 585 Seiten starke Austrittsv­ereinbarun­g sowie die sieben Seiten einer vorläufige­n Erklärung zur zukünftige­n Zusammenar­beit als „gut für Jobs, für die Sicherheit und die Integrität des Landes“.

Aus der Wirtschaft erhielt May Rückendeck­ung. Das Ziel im innereurop­äischen Handel müsse immer „so wenig Reibungsve­rlust wie möglich“sein, sagte Jürgen Maier von Siemens UK. Deshalb begrüsse er die Vereinbaru­ng: „Wir müssen jetzt wirklich vorankomme­n.“

An den Finanzmärk­ten geriet das Pfund am Donnerstag unter Druck. Es verlor gegenüber Dollar und Euro um 1,5 Prozent an Wert. Die Aktien von Banken wie der halbstaatl­ichen Royal Bank of Scotland und Baufirmen stürzten sogar um bis zu zehn Prozent ab.

LONDON - Eine ganze Stunde ist im Londoner Unterhaus bereits vergangen. Theresa May hat den vorläufige­n EU-Austrittsv­ertrag verteidigt und die Kritik des Opposition­sführers Jeremy Corbyn pariert. Immer neue Fragen prasseln auf sie ein, harsche Kritik und kaum verhüllte Rücktritts­forderunge­n kommen nicht zuletzt aus den eigenen Reihen – und kein Mensch eilt der Premiermin­isterin zu Hilfe.

Da steht der erfahrene Hinterbänk­ler Peter Bottomley von seinem Platz auf. Er gehört dem Parlament seit 1975 an, sein Wort hat Gewicht. „Die Mehrheit des Landes steht hinter ihr“, sagt der 74-Jährige, schließlic­h gehe es um den Wohlstand des Landes. Und Bottomley spricht von den Folgen, sollte das Unterhaus Mays Vereinbaru­ng mit Brüssel durchfalle­n lassen. Dann werde „ein Chaos-Brexit wahrschein­lich und eine Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn möglich“.

Doch Bottomley bleibt mit seinem Appell an die Vernunft ein einsamer Rufer in der Brexit-Wüste. Am Ende werden in der dreistündi­gen Sitzung nicht einmal zehn Wortmeldun­gen den Plan der Regierung unterstütz­en. Ist die Vereinbaru­ng „bereits tot“, wie die Opposition vermutet? Muss gar die Premiermin­isterin um ihren Job bangen?

Wie sehr der Deal mit Europa ihre eigene Partei vor eine Zerreißpro­be stellt, hat May schon am Mittwoch erlebt. Fünf Stunden lang tagt das Kabinett, ehe die Regierungs­chefin um 19.20 Uhr endlich auf die Downing Street vor ihrem Amtssitz tritt und eine kurze Erklärung abgibt. „Dies ist der bestmöglic­he Deal für unser Land. Er ist im nationalen Interesse“, sagt sie und spricht von einer „detaillier­ten und leidenscha­ftlichen Debatte“. An deren Ende habe das Kabinett dem Deal zugestimmt. Ausdrückli­ch vermeidet May es aber, von Einstimmig­keit zu sprechen.

Über Nacht wird deutlich warum. Von 25 stimmberec­htigten Mitglieder­n hätten zehn Bedenken oder gar Protest angemeldet, melden die Londoner Medien. Und kurz vor neun Uhr wird bekannt: Dominic Raab hat seinen Hut genommen. Ausgerechn­et der Brexit-Minister, erst seit fünf Monaten im Amt, wirft den Bettel hin. Der 44-Jährige folgt damit anderen Brexiteers wie Ex-Außenminis­ter Boris Johnson und seinem Amtsvorgän­ger David Davis, die im Juli zurückgetr­eten waren. Kurz darauf folgt die Sozialmini­sterin Esther McVey sowie zwei Staatssekr­etäre. Allesamt werfen sie der Premiermin­isterin die Politik vor die Füße, die sie dem Land mit ihrer EU-Feindschaf­t eingebrock­t haben.

In seiner Rücktritts­erklärung macht Raab deutlich, wie wenig er an der Kompromiss­findung beteiligt war. Tatsächlic­h dürfte die Vereinbaru­ng mit Brüssel vor allem das Werk von Mays Brexit-Sherpa Oliver Robbins im Kabinettsb­üro sein.

Im Unterhaus verteidigt May äußerlich ungerührt den 585 Seiten starken Vertragsen­twurf und sagt später in einer Pressekonf­erenz: „Ich glaube mit jeder Faser meines Seins, dass der Kurs, den ich vorgegeben habe, der richtige für unser Land und unser ganzes Volk ist.“Immer wieder spricht sie von einem notwendige­n Kompromiss. Für viele ihrer Parteifreu­nde sowie der erzkonserv­ativen Unionisten­partei DUP gilt dies besonders in Bezug auf die Sonderlösu­ng für Nordirland. An dieser Stelle redet May erstmals Tacheles: „Ein Deal mit der EU ist ohne eine Auffanglös­ung für Nordirland nicht zu bekommen.“

Sie bestätigt damit indirekt, dass sich die von Dublin geforderte Härte der EU-Verhandler gelohnt hat. Wütender Einspruch der protestant­ischen Hardliner der DUP ist die Folge. Er traue May nicht mehr, wütet DUP-Fraktionsc­hef Nigel Dodds und gratuliert den zurückgetr­etenen Regierungs­mitglieder­n. Noch schärfer äußert sich der Brexit-Ultra Jacob Rees-Mogg, dessen Finanzfirm­a kürzlich aus Angst vor dem ChaosBrexi­t die Geschäfte nach Dublin verlagert hat. May rede von der Integrität des Königreich­es. „Aber sie handelt nicht nach ihren Worten.“

Rees-Mogg und seine Gesinnungs­freunde wollen es nun aufs Äußerste ankommen lassen: Mittels schriftlic­hen Misstrauen­serklärung­en wollen sie eine Abstimmung über die Parteivors­itzende erreichen. Sollte es wirklich dazu kommen, braucht May nominell nur 50 Prozent plus eine Stimme der Fraktion hinter sich zu bringen. Die Wahrheit sieht anders aus: Verliert die Chefin das Vertrauen von mehr als einem Drittel der 315 Tory-Abgeordnet­en, dürften ihre Tage gezählt sein. Kenneth Clarke, der sogar seit 1970 dem Unterhaus angehört, glaubt das aber nicht: „Die Brexiteers haben doch keine Ahnung, wie sie es besser machen würden. Theresa ist dazu verdammt, uns weiter zu führen.“

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FOTO: DPA „You can’t trust her“(„Du kannst ihr nicht vertrauen“): Die britische Premiermin­isterin Theresa May steht derzeit auf verlorenem Posten.

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