Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Tschernobyl strahlt immer noch
Studenten der Hochschule Ulm untersuchen den Bodenseekreis nach Cäsium-137
FRIEDRICHSHAFEN - 33 Jahre sind seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vergangen. Michael Selegrad aus Friedrichshafen hat untersucht, wie hoch die radioaktive Strahlenbelastung im Bodenseekreis heute noch ist. Im Rahmen eines Forschungsprojekts nahm der Student der Hochschule Ulm zusammen mit seinem Kommilitonen Deniz Evelik 40 Bodenproben aus dem gesamten Kreisgebiet und wertete sie aus.
Die beiden Studenten sind nicht etwa mit einem simplen Geigerzähler im Wald herumgelaufen – wobei Waldgebiete aber durchaus die bevorzugten Orte waren, die sie für ihre Arbeit aufsuchten. „Die Erdproben müssen idealerweise in unberührtem Erdreich genommen werden“, sagt Selegrad. Und das nicht etwa in der oberen Erdschicht, sondern in 25 bis 25 Zentimetern Tiefe, „weil in dieser Erdschicht Pilze und andere Pflanzen ihr Wurzelgeflecht bilden und sich dort das meiste strahlende Material ansammelt“erklärt Selegrad. Die 40 ausgewählten Stellen sind über den ganzen Kreis verteilt – von Kressbronn bis Sipplingen, vom Deggenhausertal bis Meersburg. In Innenstädten wurden keine Messungen vorgenommen, weil dort am wenigsten mit unberührtem Erdreich zu rechnen ist.
Vier Monate haben Selegrad und Evelik für ihre Studie gebraucht. Jede der ein Kilo schweren Erdproben wurde im Gammaspektrometer der Hochschule Ulm eine Stunde lang analysiert. Anschließend mussten die Ergebnisse ausgewertet werden. Maßgeblich sei der Wert von Cäsium-137, denn nur dieses Element könne einzig auf Tschernobyl zurückzuführen sein, so Michael Selegrad.
„Die aktuellen Messwerte bei Cäsium-137 sind unbedenklich“, sagt sein Projektpartner Deniz Evelik. Für Lebensmittel gilt ein Grenzwert von 600 Becquerel. Der ermittelte Höchstwert im Bodenseekreis liegt bei 71,1 Becquerel pro Kilogramm und wurde in Kressbronn gemessen. Die nächsthöchsten Messwerte ergaben sich auf den Gemarkungen Owingen (45,83 Becquerel) Deggenhausertal (39,81 Becquerel), Langenargen (27,88 Becquerel), Daisendorf (27,64 Bequerel) und Sipplingen (26,02 Becquerel). In Friedrichshafen wurden 14,55 Becquerel gemessen, an den beiden verschiedenen Messstellen in Eriskirch 19,18 sowie 1 Becquerel. Das Beispiel Eriskirch zeigt, dass die Ergebnisse sich stark unterscheiden können, auch wenn die Messstellen nahe beisammen liegen. Noch stärker ist die Differenz in Langenargen. Hier wurden an der
ersten Stelle fast 28 Becquerel gemessen, an der zweiten lag der Messwert bei null.
Wie lange ist noch mit Rückständen von Cäsium-137 durch Tschernobyl zu rechnen? „Die Halbwertszeit von Cäsium-137 liegt bei 30 Jahren“, sagt Michael Selegrad. Aktuell, 33
Jahre nach der Reaktorkatastrophe, hat sich also etwas mehr als die Hälfte des Cäsiums abgebaut. „Es ist interessant, dass nach so langer Zeit, 1400 Kilometer von Tschernobyl entfernt, noch Stoffe zu finden sind“, meint Selegrad. Vielleicht wären die Werte heute durchweg hart an der Grenze des Messbaren, wenn das Wetter über Süddeutschland nicht schlecht gewesen wäre, als der Wind die radioaktiven Stoffe heranwehte. Der Regen wusch sie aus der Luft und spülte sie in die Böden. „Insgesamt ist der Bodenseekreis durch den Super-GAU aber nicht so stark betroffen wie andere Regionen in Süddeutschland“, sagt Deniz Evelik.
Untersucht wurden die Proben neben Cäsium-137 auch auf Kalium-40, Blei (Plumbum-212 und -214), Bismuth-211, Radium-226 und Uran-235. Uran-235 wurde in keiner der im Bodenseekreis genommenen Bodenproben festgestellt – worüber Evelik froh ist, denn Uran-235 hat eine Halbwertszeit von rund 704 Millionen Jahren. Erst in einer unausdenklich fernen Zukunft wäre das hoch strahlende Element abgebaut. Die Werte aller übrigen Stoffe seien unbedenklich. „Die Bewohner im Bodenseekreis können aufatmen“, sagt Evelik
Die Forschungsarbeiten von Michael Selegrad und Deniz Evelik sind Teil eines Projekts von Thomas Raiber, dem Leiter des Instituts für Strahlenmesstechnik an der Hochschule Ulm. Raiber hat sich vorgenommen, die Strahlenwerte aller Landkreise Süddeutschlands zusammenzutragen. Warum Selegrad sich freut, gerade zum Bodenseekreis forschen zu können, liegt auf der Hand: „Ich komme ja aus Friedrichshafen“, sagt er.