Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Ohne besonderen Schutz könnte es mehr Todesfälle geben“
Die Bewohnerinnen und Bewohner gehören zur besonders gefährdeten Personengruppe. Es sind nicht die 40-Jährigen, die sich frei bewegen und sich selbst versorgen können. Viele haben es mit mehreren grundlegenden Erkrankungen zu tun, die Atmung und das Herz-KreislaufSystem sind bereits eingeschränkt.
Was kann man tun?
Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein Virus, das sich so rasant verbreitet, nicht auch den Weg in diese Häuser findet. Den 100-prozentigen Schutz gibt es nicht. Aber hier gilt das Gleiche wie überall: Durch strenge Befolgung der Richtlinien des Robert-Koch-Instituts (RKI) die Ausbreitung so weit wie möglich vermeiden.
Beklagen sich Pflegende bei Ihnen, weil für die RKI-Richtlinien schlicht die Ausrüstung fehlt?
Viele fragen: Wie kann es sein, dass die Richtlinien uns Schutz vorschreiben, wenn wir vor Ort nicht genug Schutzkleidung und Desinfektionsmittel haben? Das ist ein Riesenproblem. Das Bundesgesundheitsministerium versucht alles, damit so schnell wie möglich Ausrüstung vor Ort ankommt. Aber viele andere suchen auch nach Material.
Man muss ehrlicherweise sagen: Die ganze Welt ruft gerade nach Schutzkleidung. Und auf so etwas wie jetzt war die ganze Welt nicht vorbereitet. Zu glauben, ich kann von heute auf morgen alles lösen, ist illusorisch. Aber wenn ich sehe, dass Betriebe ihre Produktion umstellen, dass Destillerien Desinfektionsmittel herstellen und Textilhersteller Mundschutze, ist da schon etwas in Gang gekommen.
Wir tun alles, damit es am Ende reicht. Aber es ist eng. Sehr eng. Und wenn ich dann noch höre: „Wir werden in der ambulanten oder in der stationären Langzeitpflege benachteiligt“, muss ich sagen: Diese Benachteiligung darf es nicht geben. Wo sich Menschen mit vollem Einsatz, vielen Überstunden und dem Wissen um die Gefahr um Gefährdete, Erkrankte und Sterbende kümmern, ist persönlicher Schutz das Mindeste. Dafür sind wir als Gesellschaft verantwortlich.
Was folgt aus dem Engpass?
Ein Appell an die Bevölkerung. Bei allem Verständnis, dass wir uns schützen wollen: Beim Gang zum Lebensmittelgeschäft bitte nur selbst gefertigte Schutzmasken tragen. Das reicht beim Gespräch an der Kasse. Die hochwertigen Schutzmasken werden aktuell von den professionellen Helfern dringend gebraucht.
Wenn jemand vom Balkon applaudiert, finde ich das richtig. Das stärkt den Pflegekräften den Rücken. Aber zusätzlich brauchen wir auch eine andere Bezahlung. Und dass die Boni jetzt steuerfrei bleiben, zeigt, dass Staat und Politik handeln, und vielleicht könnten sich jetzt die Tarifpartner ja endlich auch auf einen flächendeckenden Tarifvertrag für die Pflege einigen.
Das reicht Ihnen nicht?
Die aktuelle Lage sollte uns eine Lehre sein, dass sich nachhaltig etwas ändern muss. Pflegende werden in der Krise als Helden des Alltags bezeichnet. Doch wir brauchen sie auch ohne Corona tagtäglich. Es ist richtig, dass Pflegende bei aller Freude über emotionale Unterstützung auch monetäre Wertschätzung verlangen.
Manche Bundesländer wollen Fachkräfte zurückholen, die nicht mehr im Beruf sind. Und haben das Problem, dass sie nicht wissen, wo die Leute sind, weil niemand sie registriert hat. Mit Portalen wie pflegereserve.de wird jetzt, in der Krise, ein Portal aus der Zivilgesellschaft heraus entwickelt. Das ist gut. Aber eigentlich ist das eine Aufgabe für die Selbstverwaltung der Pflege in den Ländern, für die ich mich auch darum seit Jahren starkmache. Damit wir wissen, wo die Leute sind. Zudem gehört der Berufsstand mit an den Tisch, wenn wir über Patientenschutz sprechen.
Sie wollen eine Pflegekammer in jedem Bundesland?
Selbstverständlich. Wir haben eine Bundespflegekammer und mit Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein drei Länder, in denen die Kammer sehr gut oder gut funktioniert. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg stehen wir kurz vor der Gründung.
Eine echte Vertretung der Pflegenden ist unabhängig und neutral. Das ist die bayerische Vereinigung nicht.
Hause, noch ist offen, ob sie wiederkommen. Laufen wir in eine Pflegekatastrophe?
Offiziell haben wir ja kein Problem: Eine legal beschäftigte sogenannte 24-Stunden-Kraft kann ungehindert wieder nach Deutschland einreisen. Die Frage ist, was mit den vielen passiert, die nicht legal arbeiten und die vielleicht aus Angst zu Hause bleiben. Wir ahnen, dass ihr Anteil beträchtlich ist, aber wir wissen es nicht.
Was folgern Sie daraus?
Diese Frage zeigt doch das ganze Dilemma in der Pflege. Warum gibt es diese 24-Stunden-Kräfte? Weil wir in vielen Bereichen nicht genug eigenes Personal haben und uns in anderen Ländern bedienen. Und weil die Pflegeversicherung nicht immer die Bedarfe der Pflegebedürftigen abdeckt. Nach der Krise müssen wir das ganze Thema Pflege auf Dauer auf eine ganz andere Bühne heben.
Und das geht wie?
Wir müssen den Beruf attraktiver machen, mehr ausbilden, Karrierechancen eröffnen. Und wir müssen besser bezahlen. Das hat viele Nichtbetroffene lange nicht beschäftigt. Durch Corona kann sich die Bevölkerung nicht mehr wegducken. Sie nimmt wahr, was Pflege alles beinhaltet. Das kann eine Chance sein.
Muss der Bund Kompetenzen von den Ländern an sich ziehen?
Föderalismus ist in vielen Dingen gut. Aber in der Pflege wünsche ich mir schon mehr einheitliche Standards. Man kann mir nicht erklären, warum in Baden-Württemberg andere Personalschlüssel gelten als in Brandenburg. Die Menschen haben die gleichen Bedürfnisse, da darf Versorgung nicht von Ländergrenzen abhängig sein.
Wie wird die Pflege in Zukunft diese Zeit im Rückblick bilanzieren?
Ich hoffe, dass man sagen wird: Es war eine harte Zeit, aber wir haben gut zusammengearbeitet und es bis zum Schluss geschafft, die Menschen auf einem guten Niveau zu versorgen. Und mit noch mehr Abstand auch: Wir haben viel daraus gelernt: Endlich sind die Verbesserungen in der Pflege, für die wir so viele Jahre gekämpft haben, umgesetzt worden. Jetzt sind wir gewappnet, mit kommenden Herausforderungen umzugehen. Und vielleicht wird man dazusetzen: Schade, dass es dafür erst eine solche Krise brauchte.
RAVENSBURG - Die Zahl derer, die in Deutschland an den Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus sterben, ist im Vergleich zu anderen Ländern gering. Das Robert Koch-Institut befürchtet, dass die Sterberate jedoch auch hierzulande steigen könnte. Darüber spricht der Virologe Professor Thomas Mertens mit Daniel Hadrys.
Das Coronavirus breitet sich hierzulande auch weiter in Pflegeund Altenheimen aus. Müssen wir uns auf eine höhere Sterberate gefasst machen?
Wenn es nicht gelingt, die durch Alter und/oder bestehende Vorerkrankungen besonders gefährdeten Personen (zum Beispiel in Pflege- und Altenheimen) vor Sars-CoV-2-Infektion zu schützen, wird es natürlich mehr Todesfälle geben, die sich aber aufgrund der hoffentlich geringen absoluten Zahlen nicht gleich dramatisch auf die Sterberate auswirken müssen.
Halten Sie die derzeitige Sterberate von etwa 0,8 Prozent in Deutschland für realistisch?
Das hängt zunächst von der Art der Berechnung ab. Unabhängig davon, ob man die Zahlen von Harvard oder dem RKI von heute zugrunde legt, kommt man aktuell auf eine Sterberate von 0,94 bis 1,0 Prozent. Diese Rate ist aber bezogen auf die Gesamtzahl der Menschen, bei denen der Virusnachweis positiv war. Diese Bezugszahl enthält Erkrankte und nicht- oder nur sehr leicht Erkrankte, die ihre Erkrankung zu Hause durchgemacht haben und nicht erfasst werden. Zählt man nur die Verstorbenen unter allen Erkrankten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, ist der Prozentsatz natürlich höher. Leider sind diese Zahlen, die natürlich gesammelt werden, derzeit nicht allgemein verfügbar, und daher kann ich für die zweite Berechnung keine Angaben machen, zumal sich ja viele der stationären Patienten noch in Behandlung befinden und nicht klar ist, ob sie wieder gesund werden.
Wann lassen sich verlässliche Zahlen zur Letalität im Vergleich zu anderen Viruserkrankungen nennen?
Wenn wir die Zahlen der Erkrankten (über die Mitteilungen der Hausärzte), der stationär Behandelten, der danach Genesenen und der Verstorbenen nach der Infektionswelle kennen werden. Als genesen gilt ein Covid-19 Patient, der nach medizinischen Kriterien keine Krankheitszeichen der durchgemachten Erkrankung mehr aufweist. Wir sollten auch die Gesamtzahl der Infizierten (wie früher bereits gesagt durch Untersuchungen mit Antikörperbestimmungen) sicher abschätzen können, um den Anteil der Erkrankten und Verstorbenen unter allen Infizierten berechnen zu können (s. o.).
Was wissen wir mittlerweile über die demografische Struktur der Menschen, die an den Folgen des Coronavirus verstorben sind?
Es sind weltweit meist ältere Menschen (beginnend und zunehmend ab 50 bis 60 Jahren) und es sind mehr Männer, meist mit Vorerkrankungen, aber auch jüngere Menschen können daran sterben. Warum der Anteil der erkrankten Männer in verschiedenen Ländern deutlich unterschiedlich ist, wissen wir nicht, aber eine entsprechende Tendenz scheint es weltweit zu geben.