Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Gottesbeziehung nicht aufgeben oder verlieren“
Bischof Gebhard Fürst über gelebten Glauben und die Schwierigkeiten der Kirche in der Corona-Krise
ROTTENBURG - Ist die Corona-Krise eine Strafe Gottes? „Da gibt es keine einfachen Antworten“, sagt Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, im Gespräch mit Ludger Möllers. Entscheidend sei, dass die Menschen ihre Gottesbeziehung nicht aufgeben oder vergessen.
Angesichts der Pandemie fehlt ein kraftvolles Wort der Kirchen. Gottesdienste werden abgesagt: Ich habe fast den Eindruck, dass die Kirchen sich zurückziehen. Mutmachendes oder Wegweisendes ist für die Menschen im Augenblick für mich nicht erkennbar. Bin ich da alleine?
Kirche kann sich in dieser so außerordentlichen Zeit von den Sorgen und Ängsten, von den oft sehr notvollen Situationen nicht zurückziehen. Es geht jetzt nicht zuerst um große Worte, es geht jetzt um konkrete, helfende Taten vor Ort. Dort wo die Menschen leben. Kirche ist ja nicht einfach eine abgehobene Institution, Kirche ist das lebendige Volk Gottes, die Gemeinschaft der getauften und gefirmten Christen, die im Geist Jesu Christi leben und handeln. Viele von ihnen engagieren sich und helfen wo und wie sie können. So ist Kirche ganz nahe bei den Menschen. Sie ist hilfreich nahe durch das vielfältige Engagement in ihren Diensten, Ämtern und Ehrenämtern. Unsere Seelsorger und Seelsorgerinnen, die Priester und die Diakone wirken in den Kapillaren der menschlichen Beziehungen. In unseren 1020 Kirchengemeinden und in den fast 100 muttersprachlichen Kirchengemeinden läuft sehr viel in diesen Wochen. Ich habe mit einigen Pastoralteams, mit Pfarrern und Dekanen gesprochen. Die sind sehr kreativ und haben viele neue Projekte auf die Beine gestellt.
Welcher Schwerpunkt ist Ihnen wichtig?
Ich habe von der ersten Stunde der Pandemie an immer gesagt: Die Seelsorge geht weiter, die Seelsorge muss unter anderen Bedingungen weitergehen. Sie muss den Leuten nahe sein und ihnen durch ihr Handeln die Nähe Gottes vermitteln. Unsere katholischen Kirchen stehen offen für Besuche und Gebet. Wichtig ist auch, dass Menschen erfahren, wo und wie wir erreichbar sind, wo wir helfen und was wir als Kirche tun. Dazu nutzen wir sehr intensiv die sozialen Medien, über Kanzelworte geht das weniger. Entscheidend ist, dass vor Ort in den verschiedenen Situationen der Menschen Hilfreiches und Heilsames getan wird. Dafür ist unser pastorales seelsorgerliches Personal da. Dafür engagieren sich viele Christen – zum Heil der Menschen in Not. Ich danke allen, die sich derzeit so wunderbar für ihre Mitmenschen einsetzen!
Ist diese Krise jetzt eine Strafe Gottes?
Wir als Christen verkünden keinen strafenden Gott, der irgendein Verhalten durch Strafe und Züchtigung sanktioniert. Wir verkünden einen Gott – das ist übrigens mein Wahlspruch – der „um unseres Heiles Willen“in diese Welt gekommen ist und uns auffordert, selber heilsam für den Mitmenschen tätig zu sein. Es bleibt allerdings die Frage: Warum lässt Gott das zu? Da gibt es keine einfachen Antworten.
Und Antwortversuche?
Ich kann aus der Geschichte unserer christlich-jüdischen Religion antworten. Im Alten Bund in der Bibel, hat das Volk Gottes oft und oft furchtbare Katastrophen erlebt. Gottgläubige Menschen haben sich oft gefragt: warum? Und das Volk Gottes hat geklagt! Aber entscheidend war, dass die Menschen ihre Gottesbeziehung nicht aufgegeben oder verloren haben.
Gibt es Beispiele für dieses Verhalten?
Nehmen Sie die Gestalt des Hiob. Ihm, von dem es heißt, er sei ein Gerechter vor Gott und den Menschen, ist Furchtbares widerfahren. Ihm haben viele Menschen höhnisch zugerufen: Dein Gott verlässt dich ja. Entscheidend war nicht, dass Hiob eine theologisch reflektierte Antwort hatte. Sondern seine Antwort war trotz allem, seinen Glauben an Gott, der ihm treu ist, nicht aufzugeben.
Und so war es oft im Volk Israel. Das Gemeinwesen Israels ist mehrere Male zerstört worden. Der Tempel wurde zerstört und ihr Allerheiligstes dem Erdboden gleichgemacht. Was die Menschen aber sich nicht haben zerstören lassen, das war ihr festes Verhältnis zu Gott.
Was können wir heute lernen?
Nehmen wir die Psalmen, die Gebetslieder in der Bibel. Die betenden Menschen klagen in diesen Gebeten immer wieder über Gott und die Welt. Aber sie klagen ihre Not, ihre Angst in Gottes Ohr hinein. Die betenden Menschen haben ein Gegenüber, von dem sie wissen, dass sie bei ihm alles loswerden können, was sie bedrückt. Der Gott, den Christen verkünden, ist ein Gott, der offene Ohren hat für uns Menschen, der uns beisteht und der durch uns hilfreich tätig und wirksam werden will in dieser Welt.
Wo finden die Menschen den liebenden Gott denn konkret wieder?
Die Menschen können über ihre persönliche Gottesbeziehung hinaus die Nähe Gottes erfahren in der Nähe, die ihnen Menschen schenken. Gott wirkt nicht abstrakt, sondern er wirkt durch Menschen, die in seinem Geist leben und handeln. Diese Situation der Nähe zu den Menschen hat in der Zeit der Corona-Krise natürlich besondere Probleme, weil wir körperliche Nähe vermeiden müssen. Es ist in dieser Zeit ein Dienst der Nächstenliebe, dass wir bei den Menschen sind, aber auf eine verantwortete Weise, die Menschen genauso vor Verzweiflung schützt wie vor Ansteckung. Diese Haltung zeigt sich in den kleinen Dingen des Alltags, den alltäglichen Gesten. In heilsamen alltäglichen menschlichen Gesten ist Gott uns nahe. Wir singen in der katholischen Kirche das Lied: „Ein Haus voll Glorie schauet“. In der vierten Strophe dieses Liedes singen wir: „In menschlichen Gebärden bleibt Er den Menschen nah“. Menschliche Gebärden, liebende und hilfreiche Gesten sind Gebärden der Zuneigung, des Nicht-Vergessens, des Ernstnehmens, der Hilfe, der Hilfestellung, durch nächstenliebende Menschen oder durch professionelle Dienste in unseren Einrichtungen der Kirchengemeinden und der Caritas.
Was geht in Ihnen ganz persönlich vor, wenn Sie daran denken, dass jetzt sogar Gottesdienste verboten sind an diesen wirklich festlichsten Tagen in Ihrer Kirche?
Das ist natürlich eine Situation, die einem die Sprache verschlägt. Wir hatten so eine Situation noch gar nie, nicht in Zeiten schwerster Verfolgung, nicht in den Zeiten des Nationalsozialismus, dass Gottesdienste nicht mehr möglich waren. Ich selber habe mich so entschieden, dass ich im Dom in Rottenburg als Bischof Eucharistie feiere mit einigen wenigen, die um mich herum sind: ein Diakon, eine Lektorin, eine Kantorin, für Gesänge und die Lesungen und der Organist. So sind wir als kleine, eucharistiefeiernde Gemeinde im Dom in Rottenburg versammelt. Wir übertragen diese Gottesdienste über unsere Kanäle als Livestreams in die Diözese hinein. Das Angebot umfasst Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht und Ostersonntag.
Wie stellen Sie sicher, dass die Osterkommunion, diese wichtigste Kommunion im Jahr, den Gläubigen gespendet werden kann, die das gerne möchten?
Es gibt viele Ehrenamtliche, die die Kommunion nach Hause bringen. Wir sind im Augenblick in der Überlegung, wie das unter Einhaltung der Hygienevorschriften ohne Gefährdungen geschehen kann.
Wie wird sich denn die Gesellschaft am Ende dieser Krise darstellen? Wohin wird sie sich Ihrer Meinung nach verändern?
Die Gesellschaft in der Zukunft wird diesen dramatischen Einschnitt der Corona-Krise, der Pandemie, nie vergessen. Das ist eine solche Zäsur, wie wir dies in der Geschichte der Menschheit weltweit noch nie erlebt haben. Man muss ja sehen: Alle Weltstädte sind wie ausgestorben. Das Zusammenleben ist so gut wie ganz heruntergefahren. Alle Menschen sollen zu Hause bleiben, also ihre normalen Sozialkontakte abbrechen oder auf ein Minimum herunterfahren. Diese Erfahrungen sind mit großen Ängsten verbunden. Gott sei Dank haben wir ein funktionierendes Verteilungssystem im Hinblick auf die Nahrungsmittel. Trotzdem gibt es große Ängste: Werde ich richtig medizinisch versorgt? Halte ich meine Isolation aus? Wer ist an meiner Seite, wenn ich sterbe? Diese Erfahrung wird unsere Gesellschaft, unsere Zivilisation nicht einfach wegstecken. Denn es ereignen sich existenzielle Erfahrungen, die sich tief in unsere Seele, in unsere Herzen und in unser Alltagsgedächtnis niederschlagen und einbrennen. Wie es aussehen wird, wenn diese schwere Krise zurückgeht und wir wieder Schritt für Schritt ohne diese großen Einschränkungen leben, ist heute schwer zu sagen. Aber wir werden die Lehre daraus ziehen: dass die menschlichen Kontakte, das gegenseitige Miteinander, die Solidarität, die Liebe zum Nächsten wichtiger ist als alles andere. Ich bin überzeugt, dass wir deshalb anders aus dieser Krise herauskommen als wir in sie hineingegangen sind.