Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Labour-Chef
An der Befähigung von Keir Starmer als glänzender Jurist gibt es keinen Zweifel. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, schaffte der neue Chef der britischen Opposition schon als Knabe den Sprung auf ein Elitegymnasium, studierte Jura und war schon mit 40 Jahren Kronanwalt. Fünf Jahre lang diente er unter der letzten Labour- und anschließend der konservativ geführten Regierung weitgehend geräuschlos als Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales, wofür ihn die Queen 2014 zum Ritter schlug.
Ob aber aus dem hervorragenden Anwalt mit dem Arbeitsschwerpunkt Menschenrechte nach gerade mal fünf Unterhausjahren auch ein erstklassiger Oppositionsführer wird? Der mit einer Anwältin verheiratete Vater von zwei kleinen Kindern sieht sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit als 22. Labour-Chef mit zwei Problemen konfrontiert. Einerseits hat er versprochen, die gespaltene Partei zu einen; andererseits muss er, soll Labour wirklich regierungsfähig werden, den Einfluss der Gruppe um seinen Vorgänger Jeremy Corbyn zurückdrängen. Dazu gehört die energische Bekämpfung des Antisemitismus.
Vor allem aber braucht Starmer eine glaubwürdige Strategie gegen die konservative Regierung von Boris Johnson. Deren Umfragewerte sind durch die Corona-Krise sensationell, obwohl der Premier zunächst unsicher und zögerlich wirkte. Der neue Oppositionsführer tat am Samstag das einzig Richtige: Er sagte der Regierung Unterstützung zu, ohne das Recht auf konstruktive Kritik aufzugeben. Gewaltige Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, deutlich großzügigere Sozialhilfe, staatliche Hilfe für Arbeitnehmer und Selbstständige – die Pandemie könnte eine Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft nach sozialdemokratischem Geschmack ermöglichen. Den Mittelweg zwischen Forderungen nach mehr Staat und genauer Prüfung der Regierungsarbeit zu finden, wird Starmer viel abverlangen. Sebastian Borger