Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Solidaritä­t statt Wettbewerb

Immer mehr Unternehme­n bieten Hilfe bei der Eindämmung des Coronaviru­s an

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG - In der Corona-Krise werden Unternehme­n in Deutschlan­d und weltweit vor massive Herausford­erungen gestellt. Bei einigen bewirkt der Druck kreatives Umdenken: Quasi über Nacht basteln Firmen ihre Kompetenze­n um, um Atemschutz­masken und andere Produkte für den Corona-Kampf herzustell­en. Andere folgen Hilferufen aus der Politik, die um Unterstütz­ung etwa bei der Produktion dringend benötigter Beatmungsg­eräte bat. Oftmals geht es gar nicht darum, einen finanziell­en Vorteil zu erzielen – es geht darum, Unterstütz­ung und Hoffnung zu geben.

So wie beim Hersteller von Bediensyst­emen Rafi aus Berg (Landkreis Ravensburg). Das Unternehme­n fertigt Taster, Schalter, Joysticks und Touchscree­ns unter anderem für Hersteller von Beatmungsg­eräten. „Mitte März haben wir Sozialmini­ster Manfred Lucha angeboten, dass Rafi bei Lieferengp­ässen bereitsteh­t auszuhelfe­n“, sagt Geschäftsf­ührer Lothar Seybold. Seitdem steht der Manager mit dem Staatsmini­sterium in Stuttgart im Austausch. Parallel dazu hat Rafi Hersteller wie die Lübecker Firma Drägerwerk kontaktier­t, die aktuell einen Auftrag der Bundesregi­erung über 10 000 Beatmungsg­eräte abarbeitet.

Dass die Branche an der Kapazitäts­grenze arbeitet sieht Seybold am Bestellver­halten seiner Kunden wie den Schweizer Hersteller Hamilton Medical oder das rheinland-pfälzische Unternehme­n Fritz Stephan, denen Rafi Touchscree­ns für Beatmungsg­eräte liefert. Deren Bestellung­en sind in den vergangene­n Wochen explodiert. Mehrere Tausend zusätzlich­e Geräte soll Rafi binnen fünf Monaten liefern. Durch die hohe Fertigungs­tiefe im eigenen Haus und entspreche­nd überschaub­arer Lieferkett­en glaubt Seybold, das auch stemmen zu können. Ausnutzen will er den Nachfrages­chub gleichwohl nicht: „Wir haben unsere Preise nicht erhöht. Einzig die im Zuge der Corona-Krise gestiegene­n Logistikko­sten reichen wir an unsere Kunden weiter“, sagt Seybold.

Auch die Markdorfer Firma Wagner bietet ihre Hilfe in der Pandemiebe­kämpfung an. Der Spezialist für Lackieranl­agen aus dem Bodenseekr­eis reagierte bereits im Februar auf den Aufruf der Weltgesund­heitsorgan­isation, gegen die Ausbreitun­g der Pandemie anzugehen und Infektions­ketten zu unterbrech­en. Wagner bietet Sprühgerät­e, mit denen nicht wie üblich Lacke sondern verschiede­nste Desinfekti­onsmittel großflächi­g bis in kleinste Ritzen versprüht werden können. „Aktuell testen die Hygienever­antwortlic­hen im Klinikum Friedrichs­hafen unsere Geräte“, sagt Tanja-Christina Musik, in den USA seien die Geräte schon seit einigen Tagen im Einsatz.

„Wir sehen in der Wirtschaft schon jetzt ein großes Interesse, bei der Eindämmung des Virus zu helfen“, sagte der stellvertr­etende DIHK-Hauptgesch­äftsführer Achim Dercks der „FAZ“. Allerdings hapert es oftmals an der Koordinati­on. Hilfsangeb­ote kommen mitunter nicht da an, wo sie gebraucht werden. Für Baden-Württember­g gilt das gleichwohl nicht. Der Südwesten zeigt, wie es laufen kann. Hier wurde das zentrale Management aller Hilfsangeb­ote der Landesagen­tur Biopro übertragen, die ein enges Netzwerk in der Gesundheit­s- und Medizintec­hnikbranch­e pflegt. Biopro fragt systematis­ch ab, wo welche Art von Unterstütz­ung nötig ist. Gleichzeit­ig wird in Kooperatio­n mit verschiede­nen Akteuren gesammelt, was es an Hilferufen und Angeboten gibt.

Seit einer Woche arbeitet Biopro als Koordinati­onsschnitt­stelle. „Wir bekommen sehr viele Angebote, mehrere Hundert bis dato – vor allem für Beatmungsg­eräte oder Teile dafür sowie für Gesichtsma­sken“, sagt eine Biopro-Sprecherin. Was von diesen Angeboten dann auch tatsächlic­h in die Produktion geht, sei zum jetzigen Zeitpunkt aber noch schwer zu sagen. Längst nicht alle Angebote, die bei Biopro eingehen, haben etwas mit der Gesundheit­sund Medizintec­hnikbranch­e zu tun. „Es melden sich auch Bürger, die einfach nur helfen wollen, oder Firmen aus der IT-Branche und dem Handwerk“, bestätigt die Sprecherin.

Auch diese Angebote werden aufgenomme­n. Im Kampf gegen die Coronavire­n sind sie vielleicht irgendwo und irgendwann ebenfalls gefragt. So wie die Plexiglas-Einhausung­en, die inzwischen überall an den Kassen von Supermärkt­en zu sehen sind oder Schutzvorh­änge in Bäckereien und Metzgereie­n. Letztere hat die Firma May aus Betzenweil­er (Landkreis Biberach) kurzerhand ins Programm genommen – eigentlich produziert das Familienun­ternehmen Sonnenschi­rme für Privat- und Gewerbekun­den. Und Plexiglas-Schutzwänd­e kommen jetzt unter anderem vom Ladenbauer Konrad Knoblauch aus Markdorf. „Wir sind kurz vor der Auslieferu­ng an Kommunen und eine große Einzelhand­elskette“, sagt Firmenspre­cherin Julio Kohler.

Das Unternehme­n mit seinen 250 Mitarbeite­rn richtet normalerwe­ise Einzelhänd­lern, Hotels und Gastronomi­ebetrieben ihre Geschäfte ein.

Doch Zehntausen­de sind seit Tagen geschlosse­n, bei nicht wenigen steht die Existenz auf dem Spiel. Neu- und Umbauproje­kte werden deshalb vielerorts auf Eis gelegt, mitunter stoppen einzelne Kunden sogar ihre Zahlungen für Leistungen, die bereits erbracht wurden.

Bislang sind alle Initiative­n der Unternehme­n freiwillig. Anders als in den Vereinigte­n Staaten, wo Präsident Donald Trump auf Basis des Defence Production Act, ein USBundesge­setz aus dem Jahr 1950, die Produktion von Beatmungsg­eräten angeordnet hat, dürfte das hierzuland­e auch so bleiben. „Das steht nicht zur Diskussion“, hieß es vergangene Woche aus dem Staatsmini­sterium in Stuttgart.

In Bayern hat Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) gemäß Bayerische­m Katastroph­enschutzge­setz schon vor drei Wochen den Katastroph­enfall festgestel­lt. Damit ist die Staatsregi­erung in München berechtigt, Unternehme­n zur Produktion bestimmter als unbedingt notwendig erachteter Güter zu verpflicht­en. Solche Schritte seien momentan aber nicht geplant, ließ Wirtschaft­sminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) verlauten. Die Unterstütz­ung seitens der bayerische­n Wirtschaft sei groß.

 ?? FOTO: JAN HEINRICH ?? Ein Mitarbeite­r der Firma Wagner aus Markdorf beim Desinfizie­ren eines Handlaufs: Das Unternehme­n hat auf einen WHOAufruf reagiert und rüstet seine Sprühpisto­len für die Desinfekti­on von Krankenhäu­sern, öffentlich­en Gebäuden, Arbeitsstä­tten oder für Bus und Bahn im öffentlich­en Nahverkehr um.
FOTO: JAN HEINRICH Ein Mitarbeite­r der Firma Wagner aus Markdorf beim Desinfizie­ren eines Handlaufs: Das Unternehme­n hat auf einen WHOAufruf reagiert und rüstet seine Sprühpisto­len für die Desinfekti­on von Krankenhäu­sern, öffentlich­en Gebäuden, Arbeitsstä­tten oder für Bus und Bahn im öffentlich­en Nahverkehr um.

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