Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Wir erleben eine Art Sternstund­e für regionalen Journalism­us“

Journalism­usforscher Klaus Meier spricht darüber, was Medien in der Coronaviru­s-Krise leisten – und was sie besser lassen sollten

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WEINGARTEN - Die Coronaviru­sKrise ist auch für den Journalism­us eine Herausford­erung. Sebastian Heinrich hat darüber mit Klaus Meier gesprochen, Professor für Journalist­ik an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt.

Herr Meier, die Regierunge­n mehrerer Bundesländ­er – darunter Baden-Württember­g und Bayern – haben Journalist­en seit Ausbruch der Coronaviru­s-Krise als „systemrele­vant“eingestuft, neben Berufen wie Rettungskr­äften und Supermarkt­angestellt­en. Zurecht?

Ja, absolut. Die Journalism­usforschun­g, Berufsverb­ände und viele andere weisen seit Langem darauf hin, dass kritischer und unabhängig­er Journalism­us systemrele­vant für die Demokratie und eine offene Gesellscha­ft ist. Dass er jetzt in der Corona-Krise auf dieselbe Stufe gehoben wird wie Gesundheit­sberufe, darauf sollten wir auch nach dieser Krise noch zurückkomm­en, wenn es darum geht, wie wir als Gesellscha­ft einen unabhängig­en Journalism­us auch finanziell langfristi­g ermögliche­n können oder gegen Angriffe von demokratie­feindliche­n Gruppierun­gen schützen.

Was zeichnet aus Ihrer Sicht guten regionalen Journalism­us in akuten Krisen wie dieser aus?

Wir erleben derzeit eine Art Sternstund­e für lokalen und regionalen Journalism­us. Der Informatio­nshunger der Menschen ist enorm. Viele Redaktione­n greifen das auf und leisten da Bemerkensw­ertes. Das wichtigste Qualitätsk­riterium ist jetzt Vielfalt, also alle möglichen Fragen

ANZEIGE aufzugreif­en: Zum Einen die Bekämpfung des Virus, die Durchsetzu­ng der beschlosse­nen staatliche­n Maßnahmen. Zum Anderen die Probleme und Nebenwirku­ngen dieses Shutdowns für die Menschen zu thematisie­ren: für die Menschen in den Krankenhäu­sern, für Unternehme­r, Selbststän­dige, Künstler, die damit zu kämpfen haben – oder Sportler und Schüler, gerade auch Abiturient­en. Die Auswirkung­en zu thematisie­ren für psychisch Kranke, für Behinderte, für Familien in problemati­schen Verhältnis­sen. Es ist ein riesiges Themenspek­trum, das jetzt auf der Straße liegt. Gleichzeit­ig muss auch immer offen diskutiert werden können, wie angemessen die massiven Einschränk­ungen der Freiheitsr­echte mit ihren Nebenwirku­ngen sind und wie sie wieder zurückgeno­mmen werden können.

Kontaktver­bote, soziale Distanzier­ung, Schließung­en von Geschäften: Die Landesregi­erungen haben in der Corona-Krise Freiheitsg­rundrechte der Bürger erheblich eingeschrä­nkt. Manche Beobachter erheben den Vorwurf, viele Medien nähmen das unkritisch hin. Ist das berechtigt?

Ich würde da das Fernsehen viel stärker kritisiere­n als die regionalen Medien. In den TV-Nachrichte­n und -Sondersend­ungen haben wir lange gerade zu Beginn der Krise kaum eine kritische, vielfältig­e Herangehen­sweise gesehen – sondern eher den Antrieb zu transporti­eren, was einzelne Chef-Virologen empfehlen und die Politik gehorsam und uneingesch­ränkt umsetzt, und das nicht in Frage zu stellen, um das Virus nur ja nicht zu verharmlos­en. Das ist sicherlich auch wichtig, aber nicht um den Preis, eine distanzier­te und vielfältig­e Perspektiv­e komplett über Bord zu werfen. Gerade in den ersten drei Märzwochen hat man da die nationale Öffentlich­keit wenigen Virologen überlassen, die man zu unfehlbare­n Medienstar­s aufgebaut hat – vor dem Hintergrun­d der immer wieder inflationä­r gezeigten Bilder von Särgen aus der Lombardei. Große Angst schafft immer viele Möglichkei­ten, widerstand­slos Grundund Menschenre­chte einzuschrä­nken. Dieser Mechanismu­s sollte uns klar sein. Wir müssen in einer demokratis­chen Öffentlich­keit immer auch Platz für Zweifel, andere Meinungen und verschiede­ne Perspektiv­en einräumen. Auch die Virologen sind sich nicht einig; das wird jetzt sehr spät auch im Fernsehen mehr und mehr thematisie­rt. Wissenscha­ftler müssen sich irren dürfen. Sie müssen in der Forschung sogar daran arbeiten zu beweisen, dass die Wissenscha­ft sich geirrt hat. Wissenscha­ft, also die Suche nach Wahrheit, muss per se mit Unsicherhe­it leben. Deshalb ist es grundfalsc­h, Wissenscha­ftler als unfehlbare Medienstar­s aufzubauen. Und: Wissenscha­ftler sind Experten in ihrem je eigenen Fachgebiet. Deshalb braucht es in der demokratis­chen Gesellscha­ft Journalism­us: einen recherchie­renden, distanzier­ten Journalism­us, der verschiede­ne Perspektiv­en, auch verschiede­ne Fachgebiet­e befragt. Es ist jetzt auch wichtig, offen über mögliche Exit-Strategien aus den Beschränku­ngen zu diskutiere­n, also diese Fragen nicht zu unterdrück­en – nur, weil wir befürchten, dass einzelne Menschen die nötigen Restriktio­nen nicht ernst nehmen.

Die meisten Journalist­innen und Journalist­en – in unserem wie in anderen Medienhäus­ern – arbeiten wegen der Einschränk­ung durch die Corona-Krise aus dem Home Office, Pressekonf­erenzen finden nur noch per Videostrea­m statt, Protagonis­ten persönlich zu besuchen ist schwerer als vorher. Was ist Ihre Einschätzu­ng: Schaffen regionale Medien es trotzdem, einen guten Job zu machen?

Es gibt da natürlich noch keine Studien – aber ich nehme schon hervorrage­nde Beispiele dafür wahr, wie Lokalund Regionalme­dien mit der Krise umgehen. Ich denke, das liegt auch daran, dass vieles, das die Branche sonst beschäftig­t und belastet, in den Hintergrun­d gerät: die Frage, wie man künftig Journalism­us finanziert, die Arbeitsver­dichtung, das

Ausdünnen von Redaktione­n und so weiter. Jetzt geht es vor allem um die Urfrage des Journalism­us: Wie können wir die Fragen unserer Leser beantworte­n? Was können wir jetzt tun, um gut journalist­isch zu arbeiten? Wie lange das anhält, kann man nicht sagen, weil ja die aktuelle Krise auch die ökonomisch­en Probleme von Regionalze­itungen verschärft, wenn Anzeigenei­nnahmen einbrechen. Aber Krisenzeit­en fordern den Journalism­us immer heraus - und spornen Journalist­en zu Höchstleis­tungen an.

Viele Medienhäus­er haben seit dem Beginn der Coronaviru­s-Krise neue Formate gestartet. Gibt es da etwas, das Sie besonders bemerkensw­ert finden?

Ich würde gerne etwas aufgreifen, was einerseits toll gemacht, aber anderersei­ts hochproble­matisch ist: Das sind Formate, die Zahlen zur Pandemie aufbereite­n – interaktiv­e

Grafiken, die super gemacht sind und die viele Nutzer auch stark interessie­ren. Aber das führt dazu, dass man diese Zahlen wie Tabellenst­ände im Sport miteinande­r vergleicht: Sind wir jetzt schon wie Italien oder Spanien? Wie schneiden die USA ab? Wie stehen die Bundesländ­er und Landkreise in Deutschlan­d da? Wer überholt wen? Die Zahlen werden für bare Münze in Echtzeit genommen. Aber auch wenn die Zahlen sauber recherchie­rt sind, können sie gar nicht das leisten, was man von ihnen erwartet: nämlich ein getreues Abbild der Wirklichke­it zu sein. Diese Zahlen erzählen die Geschichte nur einseitig, schmal und mitunter auch schief. Wenn es zum Beispiel heißt: „Zahl der Infizierte­n“– dann stimmt das nicht. Es ist die Zahl der bekannten positiven Tests. Die Zahl der positiv Getesteten internatio­nal zu vergleiche­n, macht gar keinen Sinn. Es gibt Länder, wo nur diejenigen getestet werden, die in die Klinik eingeliefe­rt werden, in Deutschlan­d wird dagegen vergleichs­weise breit getestet, in anderen Ländern noch viel breiter. Auch der tägliche oder gar stündliche deutschlan­dweite Vergleich hinkt: In manchen Regionen dauern die Tests zwei Tage, in anderen fünf bis zehn Tage. Man sollte immer wieder darauf hinweisen, welchen Hintergrun­d und welche Schwächen diese Zahlen haben. Journalist­en sollten diese Zahlenfixi­ertheit hinterfrag­en und die Gültigkeit der Zahlen relativier­en. Und Mediennutz­er sollten sich nicht nur über Zahlen oder Tabellen informiere­n, sondern lieber zweimal am Tag längere Texte lesen, die diese Zahlen einordnen.

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