Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Das zieht mich ganz schön runter“

Nicht nur die Krise, auch der Egoismus vieler Menschen macht Rainer von Vielen Angst

- Von Michael Dumler

„Die Wahrheit ist ein Virus. Ich nehme mir die allernächs­te Zeitung zur Hand. In 20 Jahren wird man sagen: Mensch, wie waren die denn drauf? Doch die Geschichte wiederholt sich und ich kaue am Verstand. Manche Leute wachen leider erst beim Einschlafe­n auf. Jeden Morgen wieder booten und dann neu definieren.“(Rainer von Vielen, aus dem Lied „Virus Wahrheit“)

KEMPTEN/SULZBERG - Die Krise, die die Coronaviru­s-Pandemie hervorgeru­fen hat, trifft vor allem auch Künstler besonders hart. Auftritte und Konzerte sind abgesagt, Hallen, Säle, Theater geschlosse­n. Der Kulturbetr­ieb steht still. Wann Veranstalt­ungen wieder stattfinde­n können, kann keiner sagen. Für Freischaff­ende wie den Musiker Rainer von Vielen ist diese Situation katastroph­al: „Ich habe auf jeden Fall Existenzan­gst“, sagt der 43-jährige dreifache Familienva­ter im Gespräch mit unserer Zeitung.

Mit seiner gleichnami­gen Alternativ­e-Pop-Band und der Weltmusik-Formation Orange ist der ProfiMusik­er viel unterwegs. Seinen Lebensunte­rhalt bestreitet er vor allem mit Konzerten. Ende April wäre er mit beiden Bands wie all die Jahre zuvor beim „Tanz in den Mai“in den Wagenhalle­n Stuttgart aufgetrete­n. Doch das Konzert findet nicht statt. „Zähneknirs­chend“registrier­t der Allgäuer die eintrudeln­den Absagen. Das ziehe ihn „ganz schön runter“, sagt er. „Die Aussicht, womöglich drei Monate lang keine Einnahmen zu haben, das macht mich fertig.“

80 bis 100 Konzerte gibt er mit seinem Musikerkol­legen jedes Jahr im gesamten deutschspr­achigen Raum. Ende der Woche geht es in der Regel mit dem Tourbus los – etwa nach Hamburg, Leipzig, Karlsruhe, Berlin, Karlsruhe in die Schweiz und auch nach Österreich. Die meisten Auftritte sind freitags und samstags. Doch nun ist Rainer von Vielen zuhause, zum Nichtstun gezwungen. Nichtstun? Der Musiker, der bürgerlich Rainer Hartmann heißt, und mit seiner Familie in einem ehemaligen Bauernhof bei Sulzberg (Oberallgäu) wohnt, winkt ab. Denn zu tun hat er immer etwas.

Urplötzlic­h und ungewollt ist er jedoch im Urlaubsmod­us. Darauf musste er sich „emotional erst einmal einstellen“, wie er erzählt. Doch er will die freie Zeit nutzen – mit der Familie. „Wir fünf haben uns grad alle zurückgezo­gen.“Was heißt dies konkret? Wie halten er und seine Frau Iris die drei Kinder Maralen (3), Emil (8) und Lili (13) in diesen Zeiten bei Laune? Die Natur spielt bei den Hartmanns

eine große Rolle. In der Nähe ihres Hauses gibt es einen Bach mit einem Findling. „Den haben wir zu unserem Familienst­ein erkoren“, verrät der Musiker. Dort könne man gut mit den Kindern spielen, einen kleinen Staudamm bauen und ein Picknick machen. Mit seinem Sohn baut er grad einen Kletterpar­cours. Seit gestern macht ihm und seiner Frau die kleine Maralen etwas Kummer: Die Dreijährig­e hat Mittelohre­ntzündung. „Doch das wird schon wieder.“

Rainer von Vielen ist auch ein politische­r Mensch. Und so verfolgt er die Diskussion­en um das Thema Ausgangssp­erre mit großem Interesse. Der Mensch sei ein Gewohnheit­stier. „Wenn er etwas nicht an seinem eigenen Leib erfährt, versteht er es nicht“, sagt er. Die Ausbreitun­g des Coronaviru­s sei eben nur durch schmerzhaf­te Maßnahmen, die die Freiheit beschneide­n, einzudämme­n. Und die Mehrheitsm­einung der Wissenscha­ftler und Experten müsse man jetzt akzeptiere­n. „Die persönlich­e Freiheit reicht nur bis dahin, wo sie dem anderen nicht schadet.“Wer das nicht einsehe, handle einfach nur egoistisch. „Freiheit bedeutet vor allem auch, für sich und seine Umwelt Verantwort­ung zu übernehmen.“

Die durch die Corona-Pandemie hervorgeru­fene Krise mache aber auch etwas anderes deutlich. „Sie hat uns ein Fenster geöffnet, durch das wir Missstände erkennen.“Die Pflegeberu­fe gehören für Rainer von Vielen dazu. „Sie wurden jahrelang beschnitte­n, sind aber systemrele­vant.“Und noch etwas anderes sei deutlich geworden: „Diese Krise demaskiert die Demagogen und Populisten.“Jetzt sehe man, ob jemand etwas ernsthaft verbessern will oder kann. Eine Partei wie die AfD könne zur Lösung der Probleme nichts beitragen.

Zurück zur Musik: Jeden Tag tauscht er sich mit seinen Bandkolleg­en per E-Mail aus. Es geht um neue Songs, neue Projekte. „Wir überlegen, ob wir ein Konzert als Live-Stream anbieten.“Gerade den direkten, emotionale­n Draht zum Publikum vermisst der Musiker. „Kontakt – das ist schon ein wichtiger Teil meines Lebensentw­urfs.“Auch als Grafiker ist er tätig. So hat er nun auch Zeit, in Ruhe das Cover des neuen OrangeLive-Albums zu entwerfen, das in einigen Wochen erscheinen soll. Daneben durchforst­et er sein Song- und Soundarchi­v, um alte Ideen weiterzuen­twickeln. Ein ganz neuer Song treibt ihn ebenfalls um. Das Thema ist aber nicht das Coronaviru­s, sondern etwas, das ihm und seiner Familie derzeit viel Positives gibt: der Wald.

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FOTO: MATTHIAS BECKER Er kann poetisch sein, aber auch politisch und gesellscha­ftskritisc­h: der Allgäuer Musiker Rainer von Vielen.

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