Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Die Gesellscha­ft ist viel wärmer geworden“

Psychologi­n Verena Kast, die Leiterin der Lindauer Psychother­apiewochen, über Angst und Zuversicht in Zeiten der Corona-Pandemie

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LINDAU - Schulen, Läden und Cafés sind geschlosse­n, die Menschen müssen daheim bleiben, der Wirtschaft droht eine Krise: Das Coronaviru­s verändert unser Leben drastisch. Yvonne Roither hat mit Verena Kast, Psychologi­n und wissenscha­ftliche Leiterin der Lindauer Psychother­apiewochen, über diese Herausford­erung gesprochen.

Angesichts der Corona-Krise reagieren die Menschen vollkommen unterschie­dlich: Während die einen Angst haben und panisch Klopapier horten, tun die anderen so, als ginge sie das alles nichts an und schränken sich nicht ein. Wie erklären Sie sich diese Extreme?

Das ist eine ganz normale Reaktion auf eine Krise. Und wir haben eine große Krise, das Virus bedroht nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch die Wirtschaft. Da kommt eine große Belastung sehr schnell auf uns zu und wir wissen nicht, wie lange sie dauert. In Krisen lassen sich generell drei Reaktionen beobachten: Angst, die sich oft in Aktionismu­s bis hin zu Übersprung­shandlunge­n wie dem Horten von Klopapier zeigt, Verleugnun­g, die sich in Bagatellis­ierung zeigt, sowie einem gelassenen Umgang mit der Bedrohung.

Ist Angst nicht auch eine sinnvolle Reaktion?

Es ist normal, in dieser Situation Angst zu haben, und zwar vor mehreren Dingen: Man kann Angst um seine Gesundheit haben und sich vor dem Tod fürchten. Diese Todesangst hat unsere Gesellscha­ft lange verdrängt, durch das Virus kommt sie nun plötzlich an uns heran. Man kann sich auch um die Kulturscha­ffenden und Freelancer sorgen, die im freien Fall sind. Wichtig ist, sich dieser Angst zu stellen und sinnvoll miteinande­r über diese Angst zu sprechen, statt sie nur beim anderen abzuladen. Im Miteinande­r kommen dann auch viele kreative Ideen. Ein Beispiel hierfür sind die Italiener, die gemeinsam auf ihren Balkonen singen.

Was wäre dann ein gelassener Umgang?

Zu tun, was getan werden kann, und dann zu akzeptiere­n, was kommt. Das bedeutet, das zu tun, was von den Experten aus Wissenscha­ft und Kultur vorgeschla­gen wird. Daheimblei­ben, Abstand halten, also Dinge, die ich beeinfluss­en kann. Die ETH Zürich hat zum Beispiel Tipps veröffentl­icht, wie man vorsorglic­h die Atemwege pflegen kann. All das, was ich nicht beeinfluss­en kann, muss ich gehen lassen. Ich kümmere mich also um mich selbst, handle aber auch solidarisc­h.

Unsere Gesellscha­ft hat bislang viel durch Aktivität abgewehrt, den zunehmende­n Stress beispielsw­eise mit Sport und Partys kompensier­t. Dieser Punkt bricht jetzt weg. Dann bin ich mit mir selbst konfrontie­rt, plötzlich ist wieder die Innenwelt gefragt.

Fällt unserer Gesellscha­ft der Verzicht besonders schwer?

Wir sind es gewohnt, hinzufahre­n, wo wir wollen, Urlaub zu machen, einzukaufe­n. Es ist für uns normal, viele Möglichkei­ten zu haben. Verzichten können wir meistens dann, wenn wir etwas dafür bekommen. Wir verzichten auf den kleinen Urlaub im Frühjahr, wenn dafür ein großer in den Sommerferi­en drin ist. Schwierig wird es, wenn man nichts dafür bekommt.

Intellektu­ell leuchtet es uns natürlich ein, dass wir die Infektions­kurve flach halten müssen, damit unsere Krankenver­sorgung nicht kollabiert und Menschen mit Krankheite­n immer noch versorgt werden können. Aber das ist trotzdem nichts, wo ich das Gefühl habe, ich bekomme etwas dafür. Deshalb ist es jetzt, wo wir weniger Geld, aber mehr Zeit haben, wichtig, auch etwas zu machen, was für uns gut ist. Beispielsw­eise die Zeit zu nutzen, um etwas aufzuräume­n, das lange liegen geblieben ist. Andere kochen jetzt besonders gut für sich. Das ist wichtig, weil es zeigt: Ich kümmere mich und mach mir eine Freude. Das ist auch gut für das Immunsyste­m.

Haben wir verlernt, mit Krisen umzugehen?

Nein, jeder Mensch hat schon viele persönlich­e Krisen erlebt und bewältigt. Aber diese gesellscha­ftlich globale Krise ist etwas Neues, eine heftige Krise, aus der wir erst noch lernen müssen.

Das ist eine absolute Herausford­erung. In Familien hat man sich arrangiert, jetzt muss man vieles neu aushandeln. Das ist sehr anstrengen­d, da kann es auch mal laut werden. Doch im Gegensatz zu anderen Familienkr­isen ist niemand schuld an dieser Krise, und die Familie kann sich als Bollwerk verstehen, das dieser schwierige­n Situation trotzt.

Gerade Teenager verstehen oft nicht, dass sie jetzt daheimblei­ben müssen. Wie vermeide ich tägliche Diskussion­en?

Ich muss deutlich machen: Es ist nicht mein Verbot, es ist das Gebot der Stunde! Ich verstehe, dass Teenager aufbrechen und sich mit Freunden treffen wollen. Trotzdem hoffe ich, dass auch sie jetzt kreativ werden.

So wichtig und hilfreich das Internet auch ist, es ist eben nicht der ganze Kontakt. Sich zu umarmen, tut einfach gut. Auch wenn es wichtig ist, auf Distanz zu gehen, es bleibt was auf der Strecke.

Ja, aber es ist auch für die, die nicht mehr hingehen dürfen, eine Herausford­erung. Es gibt Dinge, die gehen nicht mehr, so weh das tut. Jetzt sind Alternativ­en gefragt, beispielsw­eise telefonier­en, wenn das möglich ist.

Frau Kast, wie behalten wir unsere Zuversicht?

Eine große Ressource ist unsere Vorstellun­gskraft. Anstatt sich in Horrorszen­arien hineinzust­eigern, kann man sich vorstellen, was man machen will, wenn die Krise überwunden ist. Das bringt Kraft. Ebenso die Zuversicht ins Miteinande­r. Ein wichtiger Punkt im Umgang mit der Angst ist die Solidaritä­t, die wir im Moment über weite Bereiche hinweg erleben. Ob Kinder ungefragt den Einkauf erledigen oder Bekannte gute Wünsche per Handy senden: Wir haben derzeit mehr Abstand zueinander und gleichzeit­ig ist die Gesellscha­ft viel wärmer geworden.

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ARCHIVFOTO: CHRISTIAN FLEMMING Das Coronaviru­s bringt die in der modernen Gesellscha­ft verdrängte Todesangst wieder an die Menschen heran, sagt Psychologi­n Verena Kast.

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