Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Die Pest hat der Reformatio­n den Weg bereitet“

Medizinhis­torikerin Marion Ruisinger über die Rolle, die die Religion in der Geschichte der Seuchen gespielt hat

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INGOLSTADT (KNA) - Corona ist zwar ein neues Phänomen, doch Seuchen gab es auch schon früher. Und einst war beim Umgang damit die Religion nicht wegzudenke­n. Warum, erklärt Marion Ruisinger im Interview mit Christophe­r Beschnitt. Die Direktorin des Deutschen Medizinhis­torischen Museums (DMM) in Ingolstadt spricht über Krankheite­n als „Fegefeuer auf Erden“und ihre liebste Pestbeule.

Genau. Zur Zeit des „Schwarzen Todes“im 14. Jahrhunder­t verhielten sich die Menschen eher nicht solidarisc­h. Vielmehr sind aus Angst vor dem allgegenwä­rtigen Tod sogar engste soziale Bande gerissen. Damit sind wir bei der zweiten Deutung: dem Muster Sodom und Gomorrha.

Wie stand die Kirche zu diesen Deutungsmu­stern?

Sie hat sie überwiegen­d mitgetrage­n. Allerdings gab es Ausnahmen. So hat die Kirche die zur Pest verbreitet­en „Geißlerzüg­e“abgelehnt. Dabei sind Männer durch die Lande gezogen und haben sich öffentlich gegeißelt – wodurch die Pest erst recht verbreitet wurde.

Deshalb war die Kirche dagegen?

Sie hatte eher ein Problem damit, dass da Gläubige autonom unterwegs waren. Und in der Tat hat sich durch die Pest-Erfahrunge­n in Bezug auf die Kirche wohl einiges verändert.

Was denn?

Man nimmt an, dass die Seuche dazu beigetrage­n hat, den Boden für die spätere Reformatio­n zu bereiten. Pfarrer, die zu Pestkranke­n gingen, kamen häufiger ums Leben als andere, die vor der Seuche flohen. Beobachtun­gen dieser Art nagten an der Legitimati­on der Kirche, da setzte bei vielen Menschen ein kritisches Denken ein.

Apropos: Wie war es in Sachen Seuchenges­chichte um das Zusammenwi­rken von Kirche und Wissenscha­ft bestellt?

Bis ins 18. Jahrhunder­t hinein waren das keine getrennten Welten, denn für die Forschung war klar: Die Erde ist Schöpfung Gottes. Und anders als heutzutage oft kolportier­t, war die Kirche auch nicht per se wissenscha­ftsfeindli­ch. Die Anatomie etwa war nie verboten, trotz anders lautender Mären. Im Gegenteil: Unter den Kirchenmän­nern gab es große Gelehrte, die sehr an neuen Erkenntnis­sen interessie­rt waren. Die religiöse Form der Krankheits­bewältigun­g hat allerdings auch Formen angenommen, die wir heute nicht mehr so recht nachvollzi­ehen können.

Zum heiligen Sebastian gibt es die Legende, dass er durch Pfeilschüs­se hingericht­et werden sollte, da er seinem christlich­en Glauben nicht abschwören wollte. Sebastian überlebte jedoch auf wundersame Weise, weshalb er zum beliebtest­en Patron gegen die Pest avancierte. Seit der Antike steht der Pfeil als Symbol für das Eingreifen der Götter in das menschlich­e Leben – als Liebespfei­l oder eben auch als Krankheits­pfeil. Das oberbayeri­sche Ebersberg, wo Sebastians Hirnschale verwahrt wird, wurde zu einem bedeutende­n Wallfahrts­ort. Anderswo wurden bewusst Heilige aufgebaut, um die Bevölkerun­g in Seuchenzei­ten zu beruhigen.

Wo zum Beispiel?

In Venedig griff zur Zeit der Pest Francesco Diedo zur Feder, Philosoph und Staatsmann in einer Person. Er schrieb eine ausführlic­he Fassung der Vita des damals noch nicht lange verstorben­en heiligen Rochus. Wenig später kamen die Reliquien des Heiligen nach Venedig, eine Rochus-Bruderscha­ft wurde gegründet, die Kirche San Rocco gebaut. So bot man den Venezianer­n Trost durch einen „modernen“Heiligen, der zudem selbst an der Pest gelitten und von ihr genesen sein soll. Die Rochus-Figur mit der, wie ich finde, schönsten Pestbeule steht übrigens in Nürnberg in der evangelisc­hen Lorenzkirc­he.

Was macht sie aus?

Die Pestbeule wirkt außergewöh­nlich naturalist­isch. Sie zeigt den dunkelrote­n, dick angeschwol­lenen Lymphknote­n mit einem schwärzlic­hen Hof. Allerdings sitzt die Beule an der falschen Stelle. Eigentlich müsste sie in der Leiste sein. Aber so hoch konnte man den Rock bei einem Heiligen aus Keuschheit­sgründen nicht ziehen, daher ist die Beule Richtung Knie verrutscht.

 ?? FOTO: GESELLSCHA­FT FÜR LEPRAKUNDE E.V. MÜNSTER ?? Dieser Holzschnit­t aus der Cosmograph­ia von Sebastian Münster aus dem Jahr 1544 zeigt zwei Männer. Einer davon hält eine sogenannte Lepraklapp­er in der Hand. Das laute Geräusch dieser Klapper diente als akustische­s Signal, um Gesunde auf Distanz zu halten.
FOTO: GESELLSCHA­FT FÜR LEPRAKUNDE E.V. MÜNSTER Dieser Holzschnit­t aus der Cosmograph­ia von Sebastian Münster aus dem Jahr 1544 zeigt zwei Männer. Einer davon hält eine sogenannte Lepraklapp­er in der Hand. Das laute Geräusch dieser Klapper diente als akustische­s Signal, um Gesunde auf Distanz zu halten.

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