Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Fünf Ringe, eine Utopie
Vor 100 Jahren wehte die berühmte Flagge mit den fünf Ringen bei den Sommerspielen zum ersten Mal – Aber 1920 verlor Olympia in Antwerpen auch endgültig seine Unschuld
Weitere Ereignisse jenes denkwürdigen Tages aus anderen Städten: In Berlin fordert die USPD die Entwaffnung aller Gegenrevolutionäre. In Köln stürmt die Polizei eine als skandalös erachtete Ausstellung der Dadaisten Hans Arp und Max Ernst. In München wird Hitler 31.
Der 20. April 1920 ist aber auch jener Tag, an dem im Eispalast von Antwerpen Eiskunstläufer ihre ersten Runden drehen – als Auftakt zu den VII. Olympischen Sommerspielen, in denen auch noch andere Wintersportdisziplinen wie Eishockey auf dem Programm stehen. Historisch bedeutsam sind die Spiele von Antwerpen, dieser vom Ersten Weltkrieg zerschundenen Stadt in Flandern, weil hier erstmals in der Geschichte die Olympische Flagge gehisst wird. Als Zeichen für Frieden und Völkerverständigung, die fünf Ringe, die sich aber gleich bei ihrem Debüt selbst konterkarieren, weil einige Länder als Kriegsfolge sanktioniert und von den Spielen ausgeschlossen werden. Deutschland und Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei. So beginnt mit den Spielen von Antwerpen die Zeit, in der Sport und Politik nicht mehr voneinander zu trennen sind. In Antwerpen 1920 verliert die olympische Idee endgültig ihre Unschuld.
Pierre de Coubertin, der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, hatte die Fahne bereits 1913 entworfen. Die fünf Ringe, ineinandergreifend, symbolisch für die Verbundenheit der fünf Kontinente, welch schöne Vision. Erstmals, so der Plan, sollte die Fahne in Berlin wehen, die deutsche Hauptstadt hatte 1912 den Zuschlag für die Spiele 1916 bekommen. Doch dann kam 1914 der Krieg, es gab kein Olympia in Berlin, es gab nur vier Jahre Schrecken, Leid und Tod, und als sich das IOC im April 1919 in Lausanne wiedertraf, hatten auch andere Städte ihre Kandidatur für 1920 eingereicht. Amsterdam und Budapest. Aus Übersee Philadelphia, Atlanta, Cleveland, Kuba brachte Havanna ins Gespräch. Doch die Wahl fiel schnell auf das arg gequälte Belgien, auf Antwerpen, das 1914 erst belagert, dann vier Jahre von den Deutschen besetzt war. Für den französischen IOC-Präsidenten Coubertin ein Zeichen der Solidarität mit dem Nachbarland, ein Symbol für den Aufbruch in eine bessere Zukunft.
Über fünf Monate erstreckten sich die Wettbewerbe, und natürlich gibt es kuriose Episoden, amüsant und nostalgisch erheiternd. Etwa, dass auch hier noch Olympiasieger in künstlerischen Disziplinen gekürt wurden wie Architektur, Malerei und Bildhauerei, in Literatur beispielsweise gewann der italienische Lyriker Raniero Nicolai mit seinem Gedicht „Canzoni Olympioniche“souverän die Goldmedaille. Oder die Geschichte des Briten Philip NoelBaker, der sich 1920 für seine gute Zeit über 1500 Meter Silber sicherte, bevor er 1959 für sein Engagement bei den Vereinten Nationen den Friedensnobelpreis holte. Und natürlich Oscar Swahn, Zweiter bei den Sportschützen und bis heute der älteste Medaillengewinner aller Zeiten, der Mann aus Stockholm mit dem weißen Rauschebart war damals 72, alter Schwede.
Doch insgesamt war es in Antwerpen 1920 dann doch nicht lustig, aus Sorge um die eigene Existenz blieb vielen Bewohnern keine Muße, um sich für das internationale Sportfest restlos zu begeistern. Wie bizarr es teilweise zuging, wie desaströs die Voraussetzungen für die Athleten vor Ort waren, lässt sich am besten an den Überlieferungen von Aileen Riggin erkennen. Die Wasserspringerin aus New York, in Antwerpen war sie gerade 14, holte Gold vom Dreimeter-Brett und wurde damit zur ersten Olympiasiegerin in dieser Disziplin überhaupt. 1994, mit 88 Jahren, erzählte sie ihre Geschichte in einem Interview, es ist wohl die detaillierteste Überlieferung dieser Spiele – und damit auch die erschütterndste.
In dem Gespräch mit der Sporthistorikerin Margaret Costa berichtete Aileen Riggin von den katastrophalen Zuständen während der 13-tägigen Schiffsüberfahrt auf der „Princess Matoika“, vor allem aber über die Bedingungen in Training und Wettkampf, in einem Schwimmstadion, das nichts anderes war als ein Graben, aufgefüllt mit Wasser. „Bei meinem ersten Sprung ins Wasser dachte ich, ich sterbe, es war so kalt, so kalt“, erzählte Riggin in der Rückschau. „Es regnete jeden Tag und gefühlt regnete es Eiszapfen. Viele Schwimmer litten an Unterkühlung, und diejenigen, die im Wasser das Bewusstsein verloren, musste man aus dem Wasser ziehen.“Das Wasser war nicht nur kalt, es war auch dunkel, Aileen Riggin plagten Ängste, sie würde nach dem Eintauchen am Boden im Schlamm steckenbleiben. „Ich fürchtete, ich käme nicht mehr hoch, und niemand findet mich in diesem schwarzen Wasser.“
Noch viel schwärzer und düsterer freilich sind die Berichte über das, was Aileen Riggin jenseits des Wassergrabens entdeckte, und wenn man die Aufzeichnungen liest, bekommt man ein Bild, wie es in Europa vor 100 Jahren aussah. Rund um Olympia 1920.
Nach dem Ende der Spiele fuhr sie mit einem Teil des Teams durch Flandern, sie kamen nach Ypern, wo im Ersten Weltkrieg die Westfront verlief, sie kamen auf Schlachtfelder, von denen die meisten Leichen schon beseitigt waren, die aber noch übersät waren mit Helmen, Gewehren, Geschossen, mit Uniformen, aus denen Menschen herausgefetzt worden waren. „Ich hob einen Stiefel auf“, erzählte Riggin, „aber ich ließ ihn gleich wieder fallen. In dem Stiefel steckte noch ein Fuß.“
In Antwerpen ging Riggin (sie starb 2002 mit 96 Jahren) dann wieder an Bord für die Heimfahrt.
Das Schiff legte vor der Rückreise über den Atlantik noch in französischen Häfen an, in Calais und in Cherbourg, das Schiff sammelte Hunderte von Särgen ein mit den Überbleibseln amerikanischer Soldaten. Und als das Schiff in New York anlegte, wurden sie alle als Helden gefeiert, die Olympiateilnehmer mit einer triumphalen Parade auf der 5th Avenue – und die Gefallenen mit einer pathetischen
Beerdigung auf ihren heimatlichen Friedhöfen. Und so waren es schon hier nicht mehr die fünf Ringe, die fünf Kontinente, die eng verbunden waren. Es war der Sport, eng verwoben mit Weltpolitik, mit Kriegswirren und Tragödien.
Was blieb von der Premiere der Olympiaflagge, dem schönen Friedenssymbol? Abgesehen von der lustigen Episode, dass die Originalfahne von Antwerpen 77 Jahre verschwunden war: Bis 1997, als Hal Prieste, amerikanischer Turmspringer von 1920 und Teamkollege von Aileen Riggin, gestand, dass er die Fahne damals heimlich vom Mast geholt hatte. Fast acht Jahrzehnte trug er sie als Souvenir in seinem Koffer mit sich, nun ist sie im Olympischen Museum in Lausanne ausgestellt. Abgesehen davon, was also blieb von Coubertins Symbol der globalen Freundschaft? Nicht viel.
Aus Protest gegen den – bis 1928 währenden – Olympia-Ausschluss initiierte Deutschland 1922 als Gegenveranstaltung die Deutschen Kampfspiele, später wurden in der Nazizeit daraus die NS-Kampfspiele. Im Wettkampfprogramm dabei unter anderem Handgranatenzielwerfen und 30-MeterSchwimmen im Drillichanzug mit Tornister – Disziplinen, die so kolossal dämlich klingen, dass man sie sich auch wunderbar in dem grandiosen Monty-Python-Sketch von den „Silly Olympics“vorstellen könnte, die in der damaligen Zeit aber traurige Realität waren und nur dazu dienten, die eigene militärische Potenz zu demonstrieren.
Die Fünf-Ringe-Fahne wehte auch 1936, als Berlin mit 20 Jahren Verspätung Olympia bekam und Hitler seine Propagandaspiele zelebrieren durfte. Sie wehte 1980 in Moskau, als der Westen wegen des sowjetischen Afghanistan-Einmarschs den Spielen fernblieb und 1984 in Los Angeles beim Retourkutschen-Boykott des Ostblocks. Und sie weht auch dann immer, wenn Machthaber, vom IOC devot hofiert, Olympia für ihre Zwecke instrumentalisieren können, ob in Peking 2008 oder in Sotschi 2014.
So schön auch in seiner ganzen Schlichtheit dieses wunderbare Zeichen mit den fünf Ringen sein mag, es ist nach 100 Jahren nicht viel mehr als leere Symbolik. Diese Fahne, weit oben flatternd, wehend am Mast. Eine Utopie, die man leider in den Wind schreiben kann.