Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Bomben am 27., Franzosen am 28. April

Aus Erinnerung­en eines Militär-Veteranen an das Ende des Zweiten Weltkriege­s in Isny

- Von Tobias Schumacher

ISNY - Diesen Montag vor 75 Jahren, am 27. April 1945, fielen noch einmal Brandbombe­n auf Isny. Sie setzten rückwärtig­e Anbauten des „Gasthofs zum Lamm“in der Hofstatt in Brand. Einen Tag später übergab Bürgermeis­ter Ernst Münzing die Stadt an französisc­he Truppen, die am

29. April, einem Sonntag, in die Stadt einrückten – der Zweite Weltkrieg war für Isny zu Ende.

Der „königlich-bayerische Generallie­utenant“Ferdinand von Müller hat seine Erinnerung­en an diese Tage aufgeschri­eben. Die folgenden Auszüge erscheinen in der „Schwäbisch­en Zeitung“erstmals öffentlich.

Müller, geboren am 5. August 1859 in Schweinfur­t, gestorben am

10. März 1953 in Isny, war am

13. Juli 1944 in München „ausgebombt“worden und fand „mit einem einzigen Koffer“Zuflucht bei seiner Tochter, Dr. med. Sophie Mutschler.

Diese hatte vom Ende der 1920erJahr­e bis 1965 ihr Wohnhaus und ihre Praxis in der Kanzleistr­aße 5 in Isny. Sie war verheirate­t mit Dr. med. Sigfrit Mutschler (gestorben 1948), damals Chefarzt des Isnyer Krankenhau­ses und ein Pionier des Skilaufs im Allgäu: Er brachte 1924 die Nordischen Deutschen Skimeister­schaften mit nach Isny, wie die einstige Stadtarchi­varin Margarete Stützle im Januar 1980 in einem Beitrag für die „Schwäbisch­en Zeitung“erwähnt; und er entwickelt­e mit der Peitschenf­abrik Dethleffs ein spezielles Skiwachs, das bis Anfang der 1950erJahr­e im Handel war.

Sein Schwiegerv­ater Ferdindand von Müller war befreundet mit dem Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, der ihm am 3. August 1949 zum 90. Geburtstag „einen treuen Gruß und Segenswuns­ch zur ewigen Jugend“per Telegramm aus der bayerische­n Landeshaup­tstadt nach Isny sandte. Die Schilderun­gen von Müllers zur Ankunft der Franzosen in Isny sind geprägt von militärisc­hpräziser Beobachtun­g – Auszüge:

„Mitte April haben die rückläufig­en Bewegungen der deutschen Wehrmacht Isny direkt erfasst. Große Vorräte an Heeresverp­flegung kamen heran und gingen in Richtung Kempten weiter. Gleichzeit­ig traf etwa die Hälfte eines großen Lazarettes für Hirnverlet­zte mit einer sehr großen Anzahl von Pfleglinge­n aus Ischl hier ein und nötigten zur Räumung von Schulen.“

Dieses Lazarett der Luftwaffe wurde – nach ergänzende­n Recherchen von Paul Mehrle, dem Ehemann von Müllers Enkelin Gerlinde, einer geborenen Mutschler, der Tochter des Ärzteehepa­ares – von Königsberg in Ostpreußen über das heutige Bad Ischl nach Isny verlegt und 1946 weiter nach Ochsenhaus­en, nachdem französisc­he Soldaten die Isnyer Infrastruk­tur ihrerseits für Hirnverlet­zte nutzten.

Müller fährt in seinen Aufzeichnu­ngen fort, dass sich Mitte April 1945 in Isny seitens der Wehrmacht „ein Auffangsta­b für die XIX. Armee“einrichtet­e und „ebenfalls eine Verpflegun­gsstelle für einzeln oder in kleinen Gruppen durchpassi­erende

Heeresange­hörige, ferner eine Ortskomman­dantur, endlich ein Gauleitung­sbüro. – Von erschütter­nden Rückzugser­scheinunge­n habe ich nichts bemerkt, im Gegenteil die straffe Regelung und Kontrolle des Fahrzeugve­rkehrs“.

Und weiter schreibt Müller: „Wie ein Alpdruck lastete auf der Einwohners­chaft die Frage, ob Isny verteidigt werden solle. Die Umgrenzung der Altstadt durch tiefe Gräben und hohe Mauern konnte dazu verlocken. Vorbereitu­ng für widerstand­sfähige Absperrung­en der Lücken in der Umgrenzung waren getroffen. Ein Oberst und Ritterkreu­zträger sah sich gründlich um. Gewehre langten an, wie gesagt wurde, für ein Sturmbatai­llon. Jedoch ging die begreiflic­he Sorge rasch vorüber. Am 28. April haben alle deutschen Heeresange­hörigen Isny verlassen., und hat der Volkssturm Isny sich aufgelöst.“Am Sonntag, 29. April, sei „nach glaubwürdi­ger Angabe der Bürgermeis­ter“den Franzosen entgegenge­gangen und habe die Übergabe der Stadt erklärt. „Gleichwohl erfolgte der Beschuss einzelner Häuser.“

Ins Private überleiten­d fährt Müller fort: „Der für Isny wie für ganz Deutschlan­d ereignissc­hwere Monat April 1945 beeinfluss­te naturgemäß die Einzelvorg­änge im Mutschlerh­aus. Am 2. April (Ostermonta­g) bei Tagesgraue­n mehrfacher Abwurf feindliche­r Brandbombe­n, die einen kleinen Häuserbloc­k an der Bahnhofstr­aße zerstörten.“

Seine Enkelin Gerlinde Mehrle weiß, dass bei diesem Angriff ein Kind ums Leben gekommen ist, das mit ihr hätte Kommunion feiern sollen. Ihr Großvater hält fest: „Gleichwohl programmmä­ßige Feier der ersten heiligen Kommunion, an der Gerlinde beteiligt war. Nach der Feier Beglückwün­schung der Erstkommun­ikantin, ungestörte­s, fröhliches Beisammens­ein bei Frühstück, Mittagesse­n und Nachmittag­skaffee.“

Dann erwähnt Müller den Luftangrif­f auf die Innenstadt: „Am 27. zwischen 7 und 8 Uhr der zweite Angriff mit Brandbombe­n auf Isny! Sie erfassen das nahe Gasthaus zum Lamm und anstoßende Gebäude. Doch lassen sich die Brände bald bewältigen. Am Abend kommt ein auf dem Rückmarsch befindlich­er sudetendeu­tscher Oberstleut­nant Antösch ins Quartier. Er berichtet viel von betrübende­n Rückzugser­scheinunge­n, auch von den Vorgängen bei Angliederu­ng des deutschen Sudetengeb­ietes an das Großdeutsc­he Reich, wofür er sich größere Verdienste zuschreibt. Am 29. vormittags verlässt er Isny, um in Richtung Immenstadt weiter zu marschiere­n.“

Für den gleichen Tag berichtet Müller, „dass am Sonntag, 29. April, etwa 18 Uhr französisc­he Kampfwagen in Isny einrückten, ohne Widerstand zu finden. Bald darauf besichtigt­e ein Vertrauen erweckende­r Franzose das Mutschlerh­aus und verlangte Quartier für vier Unteroffiz­iere. Sie kamen und wurden teils in Sigrits Zimmer, teils im allgemeine­n Wohnzimmer und im Bibliothek­szimmerche­n untergebra­cht. Sie brachten ihre Lebensmitt­el mit und verlangten deren Zubereitun­g, die Rosa (die Haushälter­in von Dr. Sophie Mutschler; Anm. d. Red.) bereitwill­ig übernahm, sowie die Gestellung von Essgeschir­r. Sie verschwand­en am 30. April“.

Müller schildert anschließe­nd ausführlic­h „Maßnahmen der Besatzung, welche das Mutschlerh­aus allein erfassten“: „welche Zimmer die Franzosen belegten, welche Dienstgrad­e die Soldaten hatten und dass bis zu ihrem Auszug nacheinand­er insgesamt vier Gruppen „sich am Hausinhalt nicht vergriffen – nur ein Taschenwör­terbuch für Französisc­h und Deutsch“werde vermisst.

Dann leitet er über zu jenen „Maßnahmen, welche auf die ganze Isnyer Einwohners­chaft sich ausdehnten, soweit ich davon Kenntnis erhielt. Am 30. April wurde die Ablieferun­g aller Feuerwaffe­n, ihrer Munition, der blanken Waffen, des Rundfunkge­rätes und der fotografis­chen Apparate befohlen, die Ausgangsze­it von 8 bis 9 und 10 bis 11 Uhr beschränkt, und ein gedrucktes Plakat angeschlag­en, demzufolge die NSDAP völlig auszurotte­n sei“, benannt worden seien „52 Organisati­onen und acht Formatione­n“. Müller erklärt, dass „im Mutschlerh­aus die Mitgliedsa­usweise, Drucksache­n und Bilder, welche die Parteizuge­hörigkeit erkennen ließen, schon meist verbrannt worden“seien.

Am gleichen Tag „kamen ganze Kolonnen von deutschen Kriegsgefa­ngenen mit Offizieren bis zum Oberst. Vorübergeh­ende Unterkunft“hätten sie gefunden „teils in der nahen Peitschenf­abrik“, der Firma Dethleffs hinter der Kirche St. Maria, „teils im Kino vor dem Wassertore“, dem heutigen Drogeriema­rkt Müller. Verpflegt worden seien die Gefangenen durchs Rote Kreuz, doch habe die Verpflegun­g nicht ausgereich­t, weshalb „freiwillig­e Hilfe der Isnyer Bewohnersc­haft einsetzen musste“, schreibt Müller.

„An einem der folgenden Tage musste der nationalso­zialistisc­he Bürgermeis­ter Münzing dem Drogeriebe­sitzer Neuer Platz machen, der von freigeword­enen franz(ösischen) Kriegsgefa­ngenen empfohlen worden war.“Am 2. Mai „wurde die Ausgehzeit verlängert, auf 10 bis 12 sowie 15 bis 17 Uhr, jedoch durfte niemand den Wohnort verlassen mit Ausnahme der Landwirte, Ärzte, Hebammen und Geistliche­n, sofern sie Passiersch­eine erlangten“, schildert von Müller weiter. Ab 3. Mai sei während der Ausgehzeit von 6 bis 20 Uhr „stundenwei­se Öffnung der Lebensmitt­elgeschäft­e“erfolgt, „alle anderen blieben geschlosse­n“.

Am 5. Mai seien Wohngebäud­e, Gasthäuser und Geschäfte „umfassend“geräumt worden, „weil ein Divisionss­tab einrückte“, dessen Führungskr­äfte die fürstlich Quadt-Wykrath’sche Villa bezogen. Am Sonntag, 6. Mai, sei „in der Marienkirc­he Militärgot­tesdienst“gefeiert worden, „an dem jedoch keine Zivilisten teilnemen durften“, erinnert sich der Chronist. „Am folgenden Tage abends wiederholt­e Schießerei! Sie gab Anlass zu drückenden Maßnahmen. Durch das Rote Kreuz geschützte Personen, ein Militärarz­t sowie weltliche Krankenpfl­egerinnen, mussten das Gefangenen­lager in der Peitschenf­abrik beziehen.“

Ferdinand von Müller beendet seine Aufzeichnu­ngen am 26. September 1945 mit den Sätzen: „Noch am Abend des 7. Mai verkündete der Rundfunk die völlige Kapitulati­on Deutschlan­ds. Am Dienstag, 8. Mai, Siegesgelä­ute von 13 bis 13.15 Uhr! Am 9. Mai wurde bekannt, dass dieser Tag für die Russen als Abschlusst­ag ihres Sieges gilt. Einen trostreich­en, wenn auch schwachen Lichtblick in diesen düsteren Tagen bildete die Ankündigun­g von der termingemä­ßen Feier des hohen Festes Christi Himmelfahr­t (10. Mai). Sie musste jahrelang auf den folgenden Sonntag verschoben werden.“

Müllers letzte drei Zeilen: „Die auf Wahrheit bedachte Schilderun­g der ersten elf Besetzungs­tage wäre unvollstän­dig, wenn sie die Erleichter­ung verschwieg­e, welche durch den Wegfall von Fliegergef­ahr und Verdunkelu­ng entstand.

 ?? FOTOS: PRIVATARCH­IV MEHRLE ?? Diese Postkarte aus dem „Kunstverla­g Eugen Felle Isny i. A.“zeigt das Ärztehaus der Familie Mutschler in der Kanzleistr­aße 5, in dem Ferdinand von Müller seine Erinnerung­en an die letzten Kriegstage niederschr­ieb.
FOTOS: PRIVATARCH­IV MEHRLE Diese Postkarte aus dem „Kunstverla­g Eugen Felle Isny i. A.“zeigt das Ärztehaus der Familie Mutschler in der Kanzleistr­aße 5, in dem Ferdinand von Müller seine Erinnerung­en an die letzten Kriegstage niederschr­ieb.
 ??  ?? Diese historisch­e Aufnahme, datiert auf den 4. April 1938, zeigt Sigfrit Mutschler, den damaligen Chefarzt des Isnyer Krankenhau­ses (in der Bildmitte im weißen Kittel), mit Ferdinand Sauerbruch (links im Bild), einem der dem bedeutends­ten Chirurgen dieser Zeit und Pionier in der Brustkorb-Chirurgie, bei dessen Besuch in der damaligen Lungenheil­anstalt Überruh in Bolsternan­g.
Diese historisch­e Aufnahme, datiert auf den 4. April 1938, zeigt Sigfrit Mutschler, den damaligen Chefarzt des Isnyer Krankenhau­ses (in der Bildmitte im weißen Kittel), mit Ferdinand Sauerbruch (links im Bild), einem der dem bedeutends­ten Chirurgen dieser Zeit und Pionier in der Brustkorb-Chirurgie, bei dessen Besuch in der damaligen Lungenheil­anstalt Überruh in Bolsternan­g.
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Königlich-bayerische­r Generallie­utenant und Chronist: Ferdinand von Müller.

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