Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Ich werfe der Regierung vor, dass sie Zeit verschleppt hat“
Grünen-Fraktionschef Hofreiter über seine Kritik an der Kanzlerin – und darüber, wie Corona-Krisenbewältigung und Klimaschutz vereinbart werden können
BERLIN - Krisenzeiten sind Regierungszeiten – aber was wollen die Grünen aus der Opposition zur Überwindung der Coronavirus-Krise beitragen? Klaus Wieschemeyer hat darüber mit Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter gesprochen.
Herr Hofreiter, in Umfragen verlieren die Grünen, und die Union legt zu. Braucht man gerade keine Grünen?
Im Moment steht die Bekämpfung der Corona-Pandemie absolut richtig im Vordergrund und damit auch die Regierung. Das ist doch normal. Unser Job ist, das konstruktiv zu begleiten. Wir sagen, was wir richtig und was wir falsch finden. Und dort, wo es Lücken gibt, machen wir Druck mit eigenen Vorschlägen.
Nun kann diese neue Normalität ja länger anhalten. Fallen die Grünen-Kernthemen Umwelt- und Klimaschutz dem Coronavirus zum Opfer?
Corona lässt die Klimakrise nicht verschwinden. Schauen Sie nur aus dem Fenster und gehen Sie raus: Es war im April viel zu warm und zu trocken. Wir hatten bisher nur fünf Prozent der normalen Regenmenge. Uns droht das dritte Dürrejahr in Folge. Wir müssen handeln, damit aus der Klimakrise keine Katastrophe wird. diesen Konjunktur- und Investitionsprogrammen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Die müssen dieses Mal klar auf die Erfüllung der Pariser Klimaschutzziele ausgerichtet sein. Ich begrüße den Klima-Appell von 60 Unternehmen, die einen klaren Fahrplan zur Klimaneutralität fordern. Die Bundesregierung sollte ihm folgen. Wir brauchen daneben auch eine deutlich dürreresistentere Landwirtschaft: Es ist sträflich, dass wir ins dritte Dürrejahr gehen und die Landwirtschaftsministerin immer noch keinen Klimaplan vorgelegt hat.
Die Landwirtschaft steckt in einer doppelten Krise: Die Einschränkungen legen gerade offen, wie sehr sie auf Saisonkräfte vor allem aus Osteuropa angewiesen ist. Diese mussten oft schon vorher unter ausbeuterischen Bedingungen leben und arbeiten. Das war schon vor Corona oft nicht menschenwürdig, aber wie leichtfertig da jetzt mit dem Gesundheitsschutz umgegangen wird, das geht gar nicht mehr. Hinzu kommt die Klimakrise: Wir brauchen eine klimaangepasste Landwirtschaftspolitik. Wir brauchen mehr Sortenvielfalt, mehr Humusaufbau. Und statt die Böden immer mehr zu entwässern, müssen wir verstärkt das Wasser in der Landschaft halten.
Es ist ausdrücklich richtig, die Lufthansa zu retten. Wir können nach der Krise nur jene Wirtschaft ökologisch und sozial modernisieren, die wir dann noch haben. Und dann dafür zu sorgen, dass sie klimafreundlicher wird, zum Beispiel mit synthetischen Kraftstoffen aus erneuerbaren Energien per Power-to-LiquidTechnologie.
Nun können Konzerne, die ihren Aktionären Dividenden ausschütten, Staatshilfe erhalten. Gleichzeitig wird die alleinerziehende Berufstätige weitgehend allein gelassen. Können Sie das Ihren Wählern erklären?
Firmen, die jetzt Staatshilfe bekommen, sollten keine Dividenden oder Boni ausschütten dürfen. Und die Hilfen für die Menschen sollten sozial gerecht sein. Deshalb wollen wir zum Beispiel das Corona-Elterngeld. Viele Eltern leisten gerade Sensationelles, das sollten wir anerkennen. Auch fordern wir eine zeitweise Erhöhung des Arbeitslosengeldes II. Doch hier sperrt sich die Union. Wenn ich als Grüner bereit bin, die Lufthansa zu retten, erwarte ich von der Union, dass sie über ihren Schatten springt und bereit ist, den Ärmsten der Armen zu helfen.
Trotz dieser Differenzen tragen Sie die Regierungspolitik mit. Warum?
Ich halte Fundamentalopposition und parteipolitische Reflexe in der wahrscheinlich schwersten Krise unseres Landes seit dem Zweiten Weltkrieg für unverantwortlich. Was es in der Demokratie aber immer braucht, auch in der Krise, ist eine wache und kritische Opposition. Ich werfe der Regierung vor, dass sie bei der Corona-App wichtige Zeit verschleppt. Beim Aufbau einer Pandemiewirtschaft, die uns zum Beispiel mit genug Masken versorgt, ist die Bundesregierung zu lahm. Das Wirtschaftsministerium von Herrn Altmaier hat uns noch vor zweieinhalb Wochen erklärt, der Aufbau einer eigenen Produktion von Schutzausrüstung in Deutschland habe keine Priorität.
Wir müssen uns im Klaren sein, dass wir noch lange mit dem Virus werden leben müssen. Wir sind noch längst nicht darüber hinweg, zumal ja wohl erst ein Bruchteil der Deutschen überhaupt infiziert ist. Uns droht eine zweite Welle. Wer nun weitere Lockerungen fordert, muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen. Und da muss sich die Kanzlerin schon fragen lassen, ob sie und ihre Minister genug tun.
Der Kurs der Kanzlerin ist epidemiologisch richtig. Aber nicht nur darauf kommt es an. Man muss die nationalen Voraussetzungen für die nächsten Phasen der Corona-Krise schaffen und sich auch europäisch einbringen. Und das Gipfelergebnis von vergangener Woche ist ja wieder mehr als enttäuschend.
Es ist weder klar, wie der notwendige Wiederaufbaufonds finanziert wird – noch, wie das Geld ausgegeben werden soll. Und angesichts eines EUBruttoinlandsprodukts von zwölf Billionen Euro ist das Paket nicht groß. Wir dürfen nicht vergessen: Uns geht es in Deutschlands exportabhängiger Volkswirtschaft nur gut, wenn es unseren Nachbarn gut geht.
Diesen brandgefährlichen Kurs kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Natürlich muss man über den richtigen Weg diskutieren, aber man sollte schon verantwortungsvoll sein und nicht überstürzt handeln. Von der AfD habe ich nichts anderes erwartet. Aber dass auch die FDP so agiert, hat mich enttäuscht. Die Rede von Christian Lindner war unverantwortlich. Er verwechselt hier individuelle Freiheit mit dem Recht des Stärkeren. Das, was ich selbst tue, betrifft insbesondere in einer Pandemie aber doch nicht nur mich, sondern kann auch das Leben anderer Menschen gefährden. Deshalb muss man aufeinander Rücksicht nehmen!
Die Autoindustrie leidet stark unter der Krise. Niedersachsen hat eine neue Abwrackprämie ins Spiel gebracht. Gehen die Grünen mit? Zum Ende: Probleme mit CoronaFrisuren haben Sie nicht, oder?
Ich habe lange Haare, ob die fünf Zentimeter länger oder kürzer sind, macht wenig Unterschied. Und meinen Bart schneide ich mir eh immer selber.