Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Allein im Heim
Ein Blick hinter die Mauern der Seniorenresidenz am Römergarten in Ehingen, wo nur noch der Fernseher auf Hochtouren läuft
WANGEN - Opa hat Corona. Als die Nachricht auf meinem Handydisplay erscheint, ist das wie ein Schlag in die Magengrube. Das Virus ist plötzlich da, mitten in meiner Familie. Und es trifft den Schwächsten von uns. Opa ist 86. Und er hat Demenz.
Die kommenden zwei Wochen werden hart, für alle Beteiligten. Für meinen Opa selbst, der oft nicht verstehen wird, was da eigentlich gerade passiert. Für die Pflegekräfte im Wangener Hospital zum heiligen Geist, wo er seit einigen Jahren lebt. Und für meine Mutter, die sich um ihn kümmert. Und die ihn schon lange nicht mehr gesehen hat. Denn in Baden-Württemberg wie in Bayern herrscht zum Zeitpunkt der Diagnose striktes Besuchsverbot.
Opa muss in Quarantäne. Das bedeutet, dass er die allermeiste Zeit des Tages auf seinem Zimmer verbringt. Seine Tür wurde ausgetauscht durch eine, die er von innen nicht öffnen kann. Im oberen Teil hat sie aber ein großes, offenes Fenster, durch das er hinausschauen kann. Der Blick auf den Gang oder hinunter in den Garten ist jetzt das, was ihm von der Welt jenseits seines Zimmers bleibt. Leicht gemacht hat sich das keiner. „Die Entscheidung wurde eingehend abgewogen und nach Absprache mit dem staatlichen Gesundheitsamt getroffen“, schreibt Susanne Müller, Sprecherin des Pflegeheims. Anders wäre mein Opa, der sonst viel unterwegs ist, nicht zu stoppen gewesen.
Meine Mutter wurde in die Entscheidung mit einbezogen, sie ist seine gesetzliche Betreuerin. Das Dokument hat sie sofort unterschrieben. Opa ist einer von sechs Infizierten, jetzt ist wichtig, dass nicht noch mehr Bewohner oder Angestellte angesteckt werden.
Trotzdem ist ihr erster Impuls: Sie will ins Pflegeheim, will sehen, wie es ihrem Vater geht. Doch das verbietet die Politik. In dieser Nacht schläft sie wenig, weint viel. Am Telefon versuche ich, sie zu beruhigen. Dabei sorge ich mich selbst.
Als das Virus Deutschland erreichte, waren alte Menschen die ersten, die die Politik abschottete. Zum Schutz, schließlich sind sie besonders gefährdet. Nun werden immer mehr Stimmen laut, man müsse die Bewohner nicht nur vor dem Virus, sondern eben auch vor der Vereinsamung schützen. „Kontakte müssen zugelassen werden, selbst während der Quarantäne“, sagt Dr. Jochen Tenter, Leiter der Abteilung Alterspsychiatrie am Zentrum für Psychiatrie in Weißenau. Wenn der Besucher Maske trage, Abstand halte und seine Hände gründlich reinige, dann sei die Gefahr einer Ansteckung sehr gering. „Der Verlust an der Lebensfreude aber ist eine reale Gefahr.“
Doch es geht nicht nur um Patienten in Quarantäne, viele Heimbewohner sind zurzeit einsam. Vor einigen Tagen erst wurde eine 91jährige Frau auf Tenters Station eingeliefert. Sie hatte versucht, sich selbst zu töten. „Wenn die alten Leute zwar leben, aber nur noch überleben, dann macht das für sie keinen Sinn“, sagt der Psychiater. Je länger Besuchsverbote andauern, umso gravierender werde es für die Bewohner. „Wenn jemand 90 ist, dann sind zwei Jahre keine Perspektive.“Angebote wie VideoTelefonie seien für Demenzkranke keine Alternative. „Haben Sie mal versucht, einem Demenzkranken so etwas zu erklären?“Auch für Angehörige, die vorher teilweise täglich
EHINGEN - Das hat sich die 90Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, völlig anders vorgestellt, als sie im September vergangenen Jahres aus ihrer Wohnung in Biberach auszog, um fortan in der Seniorenresidenz am Römergarten in Ehingen zu leben. Sie erwartete ein geselliges Zusammensein mit anderen alten Menschen, einen gemeinsamen Mittagstisch, anregende Gespräche, gemütliche Kaffeestunden, Angebote wie Gymnastik, Basteln, Singen, eventuell sogar kleine Ausflüge, die zusammen unternommen werden. Selbstverständlich waren für sie auch die regelmäßigen Besuche ihres Mannes und von Freundinnen sowie kleine Spaziergänge mit dem Rollator in die Stadt. Doch dann stellte das Coronavirus die Welt auf den Kopf. Auch im Pflegeheim in Ehingen. An gemeinsame Unternehmungen war nicht mehr zu denken. Immer im Heim zu Besuch waren, stelle die Situation eine enorme Belastung dar.
In den darauffolgenden Tagen machen die Pflegekräfte alles, um meiner Mutter das Gefühl zu geben, noch an Opas Leben teilzunehmen. Sie sehen mehrmals täglich nach ihm, sitzen an seinem Bett und geben ihr Auskunft, wann immer sie fragt. Auch für sie ist es ein Kraftakt. Meine Mutter vertraut ihnen, denn sie kümmern sich seit Jahren liebevoll um Opa. Auch, wenn er nicht immer freundlich zu ihnen ist.
Dann hält sie es nicht mehr aus, sie fährt zum Heim. Vom Fußweg vor dem Gebäude aus ruft sie Opa zu, er winkt aus seinem Fenster im zweiten Stock. Sie schickt ein Foto, alle sind erleichtert. Abgesehen von mehr Einschränkungen bestimmten das Leben im Haus.
Bitter wurde es für die Biberacherin, als sie, nachdem alle Heimbewohner auf das Coronavirus getestet worden waren, einen positiven Bescheid erhielt. Obwohl sie keinerlei Symptome zeigte, musste sie 14 Tage in Quarantäne. Das bedeutete für die Seniorin: Von ihrem Zimmer in die Isolierstation des Heimes umziehen, keinen Besuch empfangen, auf dem Zimmer essen, keinerlei Kontakt zu anderen Heimbewohnern. „Ich habe noch nie in meinem Leben so viel Fernsehen geschaut wie in dieser Zeit“, berichtet die Seniorin am Telefon.
Die Quarantäne ging vorbei, die Einschränkungen blieben. Zwar durfte die 90-Jährige wieder ihr altes Zimmer beziehen, aber nach wie vor gibt es kein gemeinsames Mittagessen, keinen Kaffeeklatsch. Kontakt zu ihren Lieben kann die Seniorin nur über das Telefon halten. Immerhin darf sie – mit Mundschutz – jetzt ab und leichtem Fieber und etwas Husten scheint es ihm gut zu gehen. An der Pforte gibt sie Schokolade für meinen ihn ab. Und einen kurzen Brief, er solle durchhalten. Es sind ja nur zwei Wochen.
Für jemanden, der jegliches Gefühl für die Zeit verloren hat, spielen Zeitangaben keine Rolle. Opa geht es von Tag zu Tag schlechter. Er mag nicht mehr essen, nicht mehr trinken, wird wütend. Ein Versuch, ihm im Krankenhaus eine Infusion zu geben, überfordert alle, am meisten ihn selbst. Er reißt sie sich aus den Venen, schreit Ärzte an. „Er weiß eben nicht, wie ihm geschieht“, sagt meine Mutter. Als er vor ein paar Jahren eine Operation an der Galle hatte, saß sie nachts bei ihm, bis er eingeschlafen ist.
Wieder zurück im Heim sitzt Opa nachts stundenlang allein auf seinem Sessel. „Die Einsamkeit ist ein sehr großes Problem“, sagt auch Susanna Saxl von der deutschen Alzheimergesellschaft. Sie könne zu einer Bewusstseinstrübung führen, die Psyche des Patienten verändern. Das Risiko sei groß, dass sich die Demenz während solcher Phasen verschlimmere. Wichtig sei jetzt Struktur. Briefe, in denen die Situation kurz erklärt werde, seien hilfreich. „Aber auch Fotos oder vertraute Musik.“
Die zwei Wochen Quarantäne sind noch nicht ganz um, da erscheint zu ihr Zimmer verlassen. „Wir alle hoffen, dass wir wenigstens bald wieder zusammen essen können“, erzählt sie.
Vergangenen Sonntag gab es zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Gemeinschaft: Das Wetter war herrlich, und einige Senioren der Residenz wurden mit Mundschutz und großem Abstand in den Garten des Heims gebracht, wo eine Musikgruppe spielte und gemeinsam gesungen wurde. „Soweit das mit Mundschutz möglich war“, berichtet die Biberacherin. Dieser kleine Lichtblick im derzeitig düsteren Heimalltag hinterließ bei der Seniorin allerdings auch folgenden Eindruck: „Man merkt vielen Heimbewohnern an, wie sie unter den derzeitigen Umständen leiden. Einige sind total zusammengefallen und haben sehr abgebaut, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe.“Sie selbst belaste die gesamte Situation auch. Aber sie füge sich. „Statt zu rebellieren, lese ich viel und schaue fern.“ wieder eine Nachricht auf meinem Display. „Opa ist negativ.“Der Stein, der in dem Moment von meinem Herzen fällt, ist riesig. Ich rufe meine Mutter an, die wieder weint. Dieses Mal vor Freude. Ein zweiter Test brachte ein negatives Ergebnis, er hat Corona nun wahrscheinlich überstanden, die fünf anderen infizierten Bewohner auch. Doch jetzt kommt Opa nicht mehr ans Fenster, er ist zu schwach.
Nur einen Tag später verkünden Baden-Württemberg und Bayern, dass die Besuchsverbote in Pflegeheimen gelockert werden sollen. Nahestehende Personen sollen ihre pflegebedürftigen Angehörigen künftig besuchen können, wenn diesen ansonsten seelische Schäden drohen. Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha spricht von einem Spagat. Denn gleichzeitig müsse das Risiko, dass das Virus von außen in die Heime getragen werde, so klein wie möglich gehalten werden. Darum wolle das Land sowohl Bewohner als auch Pflegepersonal künftig intensiver testen. „Je größer die Erfolge, desto früher kann auch über sukzessive Lockerungen nachgedacht werden“, sagt Lucha.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kann sich Besuche von einzelnen, festen Kontaktpersonen vorstellen. Doch auch er betont, dass der Schutz der älteren Generation vor dem Coronavirus in Bayern
Obwohl scharfe Kritiker die derzeitige Situation in Pflege- und Altersheimen als Freiheitsberaubung bezeichnen, reagieren die meisten Bewohner wie die 90Jährige in Ehingen noch sehr gelassen. Sofern sie verstehen, warum es momentan dermaßen strikte Regeln und Einschränkungen gibt. So meint eine 80-jährige mehrfache Großmutter, die in einem Heim in Böblingen lebt: „Auf Besuch verzichte ich gerne. Denn ich möchte verhindern, dass jemand wegen mir das Virus hier einschleppt.“Die Leiterin dieses Pflegeheims hat für diese Gelassenheit auch eine Erklärung: „Die meisten Menschen hier haben eine große Lebenserfahrung und oft weit Schlimmeres durchgemacht, zum Beispiel den Krieg.“
Trotzdem wird der Ruf nach einem Ende der Abriegelung der Heime immer lauter. Und die Politik reagiert endlich. Das baden-württembergische Sozialministerium hat am Dienstag Lockerungen angekündigt. weiterhin absolute Priorität habe.
Dass Heime künftig mehr Spielraum haben sollen, macht die Entscheidung nicht unbedingt leichter. „Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust“, sagt Anke Franke, Leiterin des Lindauer Maria-Martha-Stifts. Dort gilt bereits seit dem 13. März ein Besuchsverbot. „Man versucht, das Virus draußen zu halten“, sagt sie. „Die Hochrisikogruppe sitzt hier auf einem Haufen.“
Und es gehe ja auch darum, ihre Mitarbeiter zu schützen. „Wenn wir es im Haus haben und sie in Quarantäne müssen – wer ersetzt sie dann? Das sind alles Sachen, die wie ein Film ablaufen.“
Aber auch sie spürt: Je länger die Beschränkungen andauern, desto unruhiger werden die Männer und Frauen im Maria-Martha-Stift. „Manche weinen und müssen getröstet werden, sie fragen: Warum kommt mein Sohn nicht? Wer dement ist, versteht die Situation nicht. Das geht einem schon ans Herz“, erzählt sie. „Viele sagen auch ganz klar, dass es ihnen lieber ist, das Virus erwischt sie, als dass sie mit diesen Einschränkungen leben müssen.“
Das Maria-Martha-Stift geht einen Mittelweg. „Wir halten unsere Bewohner mit positiven Erlebnissen bei Laune“, sagt Anke Franke. Dazu gehören Clowns und Konzerte im Garten, aber eben auch Besuche von Angehörigen – auf Distanz: Wer sich anmeldet, der darf zu einer bestimmten Stelle an den Zaun des Stifts kommen. Dort ist eine Barriere angebracht, sodass es unmöglich ist, nicht genügend Abstand zu wahren. Für Anke Franke ist aber auch klar: Sollte das Virus je ins Maria-Martha-Stift gelangen, dann wird auch sie alles tun, um die Ausbreitung zu verhindern. Auch wenn das für manche bedeuten würde, dass sie auf dem Zimmer bleiben müssten.
Auch die Wangener Hospitalstiftung mache sich Gedanken dazu, wie man allen berechtigten Interessen gerecht wird, schreibt Sprecherin Susanne Müller. Derzeit sei man aber noch dabei, das Virus einzudämmen. Heimleitung und Hygienefachleute beobachteten die Situation mit großer Anspannung und hofften, dass auch weiter keine Infektionen mehr auftauchen. Mittlerweile sind 19 Tage vergangen, seit der erste Patient positiv getestet wurde. Weil es eine „nicht unbedeutende Inkubationszeit“gebe, sei man noch sehr vorsichtig. „Sobald es zu vertreten ist, wird es Erleichterungen geben“, schreibt sie.
Ein dritter Test ist für Ende der Woche geplant. Wenn der auch negativ ist, dann darf meine Mutter Opa vielleicht bald schon besuchen. Jetzt ist sie erst einmal glücklich, dass die Pflegekräfte ihn wieder aufgepäppelt haben. Gestern war sie vor seinem Fenster. Er hat wieder gewunken.