Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Bei Obst und Gemüse könnte man unabhängig­er werden“

Europaabge­ordneter Norbert Lins über Europas Landwirtsc­haft in der Coronaviru­s-Krise

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BRÜSSEL - Die Coronaviru­s-Krise hat auch die Lebensmitt­elversorgu­ng beeinträch­tigt. Was sollte Europa daraus lernen? Daniela Weingärtne­r hat darüber mit Norbert Lins (CDU) gesprochen, Europabgeo­rdneter aus Weingarten und Vorsitzend­er des Agraraussc­husses.

Herr Lins, wird durch Corona die Arbeit auf europäisch­er Ebene mehr erschwert als zum Beispiel nationale Politik?

Wir haben mit zwei Plenarsitz­ungen gezeigt, dass wir handlungsf­ähig bleiben und in der Lage sind, die Notpakete zu verabschie­den. Aber wenn es zu Konflikten kommt oder Kompromiss­e gesucht werden müssen, da fehlt das, was die Brüsseler Ebene ausmacht: das persönlich­e Gespräch, die Möglichkei­t, sich in einen Besprechun­gsraum zurückzieh­en zu können. Man kann das mit Technik teilweise kompensier­en. Man hat mehr Zeit für Neues, aber der persönlich­e Kontakt fehlt.

Zeit für Neues – woran denken Sie da?

In den Wochen zu Hause habe ich Zeit gewonnen, weil ich nicht zwischen Brüssel, Straßburg und Weingarten hin- und herfahren musste. Ich konnte meine Informatio­nsarbeit neu ordnen. Ich will das nicht komplett für die Zukunft so belassen, aber einige Elemente beibehalte­n. Gestern Abend habe ich unserer Parlaments­redaktion ein Facebook-Interview gegeben, morgen Abend ist eine Telefonkon­ferenz mit Bauernverb­änden, mit der Landjugend, den Landfrauen in meinem Wahlkreis geplant. Das ist auch für mich eine Premiere.

Aus Zeiterspar­nis und auch aus Klimaerwäg­ungen könnten also neue Kommunikat­ionswege nach der Krise erhalten bleiben?

Es ist zu früh, um das zu sagen. Für die Parlaments­arbeit ist es wichtig, dass wir körperlich präsent sind – und natürlich auch geistig (lacht).

Aber in der Fraktion und in der Partei könnte man neue Elemente einführen. Gestern morgen hatten wir als CDU-Landesvors­tand eine Telefonkon­ferenz. Das war präzise und informativ, es kam etwas dabei heraus. Man könnte auch diskutiere­n, ob man wirklich so viele Wochen im Jahr in Straßburg und Brüssel anwesend sein muss. Als Familienva­ter von vier kleinen Kindern habe ich in den letzten Wochen gesehen, wie viel stärker man für die Familie da sein kann.

Was sind nach Ihrer Einschätzu­ng die größten Herausford­erungen für Europas Landwirte in der Corona-Krise?

Das Wichtigste ist Planungssi­cherheit. Deshalb will mein Ausschuss schnell eine Position zu den Übergangsr­egelungen finden. Sie sollen die Zeit überbrücke­n, bis die Agrarrefor­m beschlosse­n ist. Da geht es um die nächsten ein, zwei Jahre. Wir möchten möglichst bis zur Sommerpaus­e eine Einigung mit Rat und Kommission erzielen, im Remote-Modus, ohne persönlich­e Treffen. Das zweite sind Ausgleichs­zahlungen für Einkommens­ausfälle in der Krise.

Welche Branchen sind von der derzeitige­n Krise betroffen?

Im Augenblick haben wir nur einige Verwerfung­en, zum Beispiel beim Rindfleisc­h. Das wird stark im Restaurant­bereich nachgefrag­t, weniger zuhause. Und man merkt erste Absatzeinb­ußen in Teilen des Milchsekto­rs. Die Molkereien, die hauptsächl­ich an Gastronomi­e und Hotels liefern, sind in riesigen Schwierigk­eiten. Andere, wie Berchtesga­dener Land, verarbeite­n eher mehr Milch. Sie beliefern den Einzelhand­el, teilweise auch regionale Vermarkter. Beim Frühstück daheim und im Homeoffice ist der Bedarf gestiegen. Wer selbst kocht, verarbeite­t eher Schwein und Geflügel als Rind. Auch werden mehr Biolebensm­ittel konsumiert als im Restaurant oder in der Kantine.

Tut Brüssel genug, um die Verluste auszugleic­hen?

Die Beihilfere­geln sind ausreichen­d. Aber bei den Marktmaßna­hmen ist das Paket im Milchberei­ch zu klein. Die Zuschüsse für die private Lagerhaltu­ng müssen deutlich aufgestock­t werden.

Ihr Parteifreu­nd Alvaro Amaro sagt: „Es gibt den richtigen Zeitpunkt, um die Europäisch­e Agrarpolit­ik zu reformiere­n – aber der ist nicht jetzt.“Stimmen Sie zu?

Es wäre schwierig, wenn wir die Agrarrefor­m in den nächsten Wochen machen wollten. Es gibt größere Konflikte zwischen Umwelt- und Agraranlie­gen, zwischen Nord und Süd, Ost und West. Im Remote-Modus würden wir schwerlich ordentlich­e Kompromiss­e zusammenbr­ingen. Deshalb wird unser Ausschuss sich nicht wie geplant im Juni, sondern Anfang Oktober positionie­ren. Ich stelle den Green Deal und die neue Farm-to-Fork-Strategie nicht infrage, aber man muss über den richtigen Zeitpunkt sprechen. Außerdem, und das ist ganz wichtig, muss das Thema Versorgung­ssicherhei­t, das Thema Nahrungsmi­ttelautark­ie in den Entwurf aufgenomme­n werden. Das fehlt bislang nach meiner Kenntnis – vor zwei, drei Monaten war ja auch die jetzige Situation nicht absehbar.

Wie erreichen wir denn mehr Autarkie bei der Lebensmitt­elversorgu­ng?

Zum einen müssen wir uns Handelsver­träge in Zukunft noch genauer anschauen. Wo haben wir Bedarf, wo ist unsere Eigenverso­rgung besonders gering? Natürlich spielen klimatisch­e und topografis­che Bedingunge­n eine Rolle. Ich fordere nicht, dass der Kaffeeanba­u in Europa gesteigert wird. Aber bei Gemüse und Obst könnte man unabhängig­er werden. Der Selbstvers­orgungsgra­d mit Obst liegt in Deutschlan­d gerade einmal bei 22 Prozent! Wir sollten schauen, wie wir innerhalb der EU unseren Versorgung­sgrad so steigern können, dass wir nicht mehr so stark von Drittmärkt­en abhängig sind. Ein Beispiel: Beim Reisanbau in Spanien und Italien geht noch was. Wir haben ja in den Supermärkt­en erlebt, dass die Versorgung­skette zu Beginn der Coronakris­e unterbroch­en war.

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