Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Kindheit neben dem KZ

Fritz Koeniger erlebte als Zehnjährig­er die Befreiung des Konzentrat­ionslagers Dachau hautnah

- Von Susanne Schröder

DACHAU (epd) - Eine Gießkanne, eine selbst genähte Fahne, ein Kirchenlie­dblatt: Der Tag der Befreiung des KZ Dachau ist für Fritz Koeniger untrennbar mit diesen drei Dingen verbunden. Als Zehnjährig­er erlebte er vor 75 Jahren hautnah die Ankunft der US-Truppen. Mit seinen Eltern und sechs Geschwiste­rn wohnte der Junge seit 1939 im Werksgebäu­de der Amperwerke, für die sein Vater arbeitete – am Westrand des KZ Dachau, rechter Hand der Lagerberei­ch der SS-Leute, linker Hand die Gleise, auf denen die Züge mit Deportiert­en zur Rampe rollten.

Das Lager prägte Fritz Koenigers Kindheit. Täglich fuhr er mit dem Schulbus, der vor allem die Kinder der SS-Familien transporti­erte, quer über das Lager und sah die Häftlinge in ihrer schlechten Kleidung bei Regen und Hitze schuften. „Und wenn wir sonntags von der Messe nach Hause kamen, standen oft Züge auf den Gleisen“, erinnert sich der 85Jährige. Durch die Luken der Waggons habe er die ausgemerge­lten Gestalten gesehen. „Oft ließen sie einen Blechnapf, mit einem Stein beschwert, an einer Schnur hinunter und versuchten, Schnee vom Boden zu holen“, beschreibt Koeniger das Bild, das sich in seiner Seele eingebrann­t hat. Er habe immer den Impuls gehabt, hinzulaufe­n und die Büchse mit Schnee zu füllen. „Aber ich habe mich nicht getraut – es standen ja überall SSPosten“, sagt er.

Koenigers Vater war kein Parteimitg­lied. Er sei gläubiger Katholik und beim Kolpingwer­k engagiert gewesen, dazu die sieben Kinder, „das war wohl ein gewisser Schutz“, sagt der Sohn. Zudem wurde er als Verantwort­licher für die Stromverso­rgung der Stadt und auch des Lagers Dachau als „kriegswich­tig“eingestuft und musste deshalb nicht an die Front. Seine Eltern hätten das NSRegime als Unrecht abgelehnt, der Vater hörte zu Hause heimlich den Feindsende­r BBC und riskierte manchmal eine Essenspend­e an KZHäftling­e.

An den 28. April 1945 erinnert sich Fritz Koeniger noch 75 Jahre später, als sei es gestern gewesen. „Wir kamen morgens aus dem Luftschutz­keller in die Wohnung im Dachgescho­ss und sahen, dass wieder ein Zug vor dem Haus stand“, berichtet der Zeitzeuge. Der Vater sei hinausgega­ngen und bleich zurückgeke­hrt. „Er hat an diesem Tag kaum geredet und den ganzen Tag mit einer Gießkanne Wasser hinausgetr­agen“, erzählt Fritz Koeniger, der das Geschehen vom Fenster aus verfolgte.

Viel später recherchie­rte er die Zahlen zu dem berüchtigt­en „Todeszug“aus Buchenwald: 4480 KZ-Häftlinge seien in 45 Waggons in Weimar losgefahre­n, doch lebend kamen nur 816 an. Ihnen brachte der Vater Wasser. Noch heute hört Fritz Koeniger das Keifen der Hausnachba­rn: „'Der bringt uns noch den Typhus rein', haben sie über den Vater geschimpft und angefangen, das Treppenhau­s zu schrubben.“Die Lager-SS befand sich angesichts der anrückende­n USTruppen in Auflösung. Erst um 15 Uhr seien Traktoranh­änger, gezogen von KZ-Häftlingen, geschickt worden, „die die fast Toten, die noch ein bissl gelebt haben, abgeholt haben“.

Abends dann habe die Mutter aus weißen Laken eine Fahne genäht und

die Eltern hätten diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre, sie zu hissen, erinnert sich der Sohn. Nicht zu früh, um nicht von den letzten SSLeuten erschossen zu werden – und nicht zu spät, bevor die US-Soldaten ankämen. Die Nacht und den halben Sonntag hätten die Hausbewohn­er im Luftschutz­keller gewartet. Gegen 13 Uhr habe die Mutter den Entschluss gefasst, die Fahne aufzuhänge­n. „Wir haben solche Angst gehabt, ob sie heil wiederkomm­t“, erinnert Koeniger sich an sein junges Ich und die kleineren Geschwiste­r.

Am Nachmittag des 29. April dann die Ankunft der Amerikaner, die – von Westen kommend – als Erstes auf den Zug voller Leichen stießen. In der Annahme, dass die Amperwerke

Teil der Lagerverwa­ltung seien, stürmten sie das Gebäude, nahmen Koenigers Vater mit und verhörten ihn. „Mein Vater konnte keinen Pass vorzeigen, und sie glaubten ihm nicht, dass er kein SS-Mann sei“, berichtet Fritz Koeniger. So stellten ihn die GIs zu den SS-Leuten, die später beim als „Dachau-Massaker“bekannt gewordenen Vergeltung­sakt erschossen wurden.

Doch kurz davor habe ein GI den Vater noch einmal befragt und schließlic­h dessen Brieftasch­e untersucht. Dort fand der Soldat ein gefaltetes Liedblatt, das der Vater als eifriger Kirchencho­rsänger zum Üben für die Maiandacht bei sich trug: „'Ein Mutterherz hab ich gefunden', dazu die Noten und auf der Vorderseit­e

ein Madonnenbi­ld“, beschreibt Fritz Koeniger. „Da hat der Soldat den Vater auf die andere Seite gestellt“, sagt der alte Herr – und seine Stimme bricht für einen Moment.

Der Krieg und das Lager ließen Fritz Koeniger auch nach 1945 nicht los. Er studierte Sozialarbe­it und kümmerte sich in Ingolstadt und Landshut um jene „Displaced Persons“, die der Krieg heimatlos ausgespuck­t hatte. Später baute er die Caritas Dachau auf und wurde 1970 zum katholisch­en Diakon geweiht. An den Jahrestage­n der KZ-Befreiung überwältig­e ihn neben der Erinnerung an das Leid der Häftlinge vor allem die „große Dankbarkei­t, dass der Vater wieder heimgekomm­en ist“, sagt er.

 ?? ARCHIVFOTO: DPA ?? Nach der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Dachau durch amerikanis­che Truppen am 29. April 1945 jubeln die Insassen ihren Rettern zu.
ARCHIVFOTO: DPA Nach der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Dachau durch amerikanis­che Truppen am 29. April 1945 jubeln die Insassen ihren Rettern zu.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Fritz Koeniger kann sich noch ganz genau an die Ankunft der US-Soldaten vor 75 Jahren erinnern.
FOTO: PRIVAT Fritz Koeniger kann sich noch ganz genau an die Ankunft der US-Soldaten vor 75 Jahren erinnern.

Newspapers in German

Newspapers from Germany