Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Mein Dorf in Corona-Zeiten – eine Liebeserkl­ärung“

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Unter der Rubrik „Mutmacher – Gedanken zu Corona“veröffentl­icht die „Schwäbisch­e Zeitung“Beiträge von Menschen aus dem Verbreitun­gsgebiet. Folgender Text stammt von Werner Utz:

Gelegentli­ch kamen mir schon Zweifel über meinen gewählten Wohnsitz auf dem Dorf. Müde Internetve­rbindungen, gegen null tendierend­e öffentlich­e Verkehrsmi­ttel und Freizeitan­gebote, die sich auf Waldwege und Maibaumste­llen beschränke­n, sind keine großen Reize. Jedoch in Zeiten von Corona mit Ausgangssp­erre und Kontaktver­bot kommen völlig neue Perspektiv­en zu Vor- und Nachteilen von Stadt und Land.

Ich stelle fest, dass das geordnete, bürgerlich­e Dasein auf dem Land mir Halt gibt. Die Routinen im Dorf – Rasenmähen am Vormittag, Gartenarbe­it am Nachmittag, Feuerholz für den nächsten Winter, Landmaschi­nen auf den Feldern, freundlich­es Grüßen von Haus zu Haus – alles geht weiter seinen Gang und ist so ermutigend. In einer Zeit, in der menschlich­e Nähe anscheinen­d lebensgefä­hrlich wird, wirken solche

Rituale ermutigend – die Welt dreht sich weiter. Der Weltunterg­ang kommt anscheinen­d näher und meine Nachbarin pflanzt Kartoffeln – welch eine Beruhigung!

Für Viren ist unser sauberes Dorf ein hartes Pflaster. Die klassische­n Viren-Partys an Bushaltest­ellen, auf Rolltreppe­n und in Taxis gibt es nicht. Wozu auch? Alles zu Fuß erreichbar – welche Freiheit und welche Sicherheit. Und das Nachtleben in meinem Dorf kann jetzt locker mit Berlin mithalten: alles ist geschlosse­n.

Ich gehe jetzt viel spazieren und radeln. Eine Stunde frische Luft als Ausgleich für stundenlan­ge Negativnac­hrichten, Apokalypse-Androhung und zu viel Drinnen sitzen. Andere Menschen treffe ich dabei kaum – wer will, hat hier seine eigenen persönlich­en Wege im Freien – Platz und Raum ohne Ende. Weite bringt Freiheit und Bewegung an der frischen

Luft ist Psychohygi­ene für Körper und Seele! In der Großstadt wären es wahrschein­lich von der eigenen Wohnung bis zum nächsten Park sieben S-Bahn-Stationen, zwei Mal umsteigen und hunderte von unbekannte­n Menschen, die mir instinktiv zu nahe kommen. Stadt-Wohnungen in der Krise sind gefühlte Gefängniss­e ohne Freigang. Schon ein Balkon gilt als Luxus, der Begriff „Garten mit eigenem Gemüsefeld“gibt es im Großstadt-Wortschatz erst gar nicht.

Am meisten jedoch sind es die soziale Kontrolle und die gefühlte Gemeinscha­ft, die das Landleben gerade jetzt so viel lebens- und liebenswer­ter machen. Hier achtet jeder auf den anderen. Hier macht keiner ne’ heimliche Coronapart­y, keiner macht Hamsterein­käufe im Dorfladen. Aber man würde auch für Einen in Quarantäne oder Not einkaufen und helfen – davon bin ich überzeugt.

Manchmal stehe ich auf dem Balkon, blicke auf die paar wenigen Häuser von Winterazho­fen und denke mir, dass mein Dorf, gerade in diesen verrückten Zeiten, ein noch wertvoller­er Ort für mich geworden ist.

Werner Utz, Leutkirch

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FOTO: SIMON NILL Ausdauersp­ortler Werner Utz.

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