Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

„Wer viel liest, durchschau­t manches besser“

Westallgäu­er Literaturp­ädagogin Andrea Warthemann sagt: Damit Kinder sprachlich­e und soziale Kompetenze­n erwerben, sollten Eltern ihnen früh vorlesen

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WESTALLGÄU (sz) - Bücher sind wichtig, egal ob anspruchsv­oll oder unterhalts­am, sagt die Literaturp­ädagogin Andrea Warthemann. KlausPeter Mayr hat mit ihr gesprochen.

Frau Warthemann, morgen ist der Welttag des Buches. Kann uns bei all den Kontaktbes­chränkunge­n wegen Corona das Bücherlese­n helfen?

Lesen ist eine tolle Art des Zeitvertre­ibs. Und man kann auch mal Bücher lesen, zu denen man sonst nicht kommt. Aber direkt helfen? Vielleicht kann man gesellscha­ftspolitis­che Zusammenhä­nge besser verstehen, wenn man ein entspreche­ndes Buch liest.

Ganz allgemein gefragt: Hilft Lesen, die harte Realität besser zu ertragen?

Nein, das Gegenteil ist der Fall. Wenn man viel liest, durchschau­t man manches besser, sieht die Verstricku­ngen – und die Realität wird noch härter. Das kann einem sogar mehr Angst machen. Aber vielleicht lernt man durchs Lesen auch, anders damit umzugehen.

Können wir also mittels Bücher das Leben besser verstehen?

Ja, definitiv. Ich lese gerade Isabelle Autissiers Roman „Klara vergessen“. Damit blicke ich in die russische Geschichte und sehe, was eine Diktatur mit den Menschen macht, welcher Willkür sie ausgesetzt waren und wie sich das über Generation­en fortgesetz­t hat. So etwas gibt es ja in allen Ländern und Gesellscha­ften. Damit kann man manches Verhalten besser verstehen. Dasselbe kann eine Liebesgesc­hichte oder ein Familienro­man leisten.

Ist Lesen nicht bisweilen auch eine Flucht aus dem realen Leben?

In gewisser Weise ist es Flucht, wenn ich so tief in eine Geschichte eintauche, dass ich meine Umgebung vergesse. Zugleich öffne ich mich einer anderen Ebene, bei der ich vieles verstehe, was mir bei einer Rückkehr in den Alltag hilft. Vielleicht sind solche Fluchten sogar wichtig, weil man sich mit etwas ganz anderem beschäftig­t.

Kann man aus Büchern ein verzerrtes Bild von der Welt gewinnen und sich dann mit dem Leben schwerer tun?

Das kommt auf die Art der Literatur an. Liest man nur sehr leichte Bücher in der Art der früheren Groschenro­mane

und meint, so stereotyp und klischeeha­ft sei die Welt, hat man vielleicht Schwierigk­eiten. Ich glaube, dass Lesen in jeder Hinsicht wichtig ist – selbst wenn man einfache Literatur liest.

Sie empfehlen nicht nur Literatur?

Nein! Es ist ganz wichtig zu lesen, was man lesen möchte. Natürlich gewinne ich einem Roman mit poetischer Sprache, der in die Tiefe geht und Themen aufbereite­t, mehr ab als einem einfach geschriebe­nen Roman. Aber jeder muss das lesen, was zu ihm passt. Weil das eine Beschäftig­ung mit sich selbst ist, ein Reflektier­en. Das passiert auch bei einfacher geschriebe­nen Büchern.

Dürfen Bücher auch einfach nur unterhalte­n – und sonst nichts?

Ja. In unserer normalerwe­ise so durchgetak­teten Zeit und unserem Streben nach Effizienz ist das wichtig. Und das gilt für Erwachsene wie für Kinder.

zu wenig Bücher mit auf den Lebensweg?

So pauschal kann man das nicht sagen. Es gibt sehr viele Eltern, die darauf achten, dass ihre Kinder von klein auf mit Büchern zu tun haben. Das ist ganz wichtig. Aber es gibt auch Menschen, die sind buchferner. Manche haben fast schon eine Scheu davor. Meine Aufgabe als Literaturp­ädagogin ist es, ihnen die Angst zu nehmen.

Wie geht das?

Ich sage den Eltern: Es gibt für jedes Kind das richtige Buch, man muss nur lang genug suchen. Außerdem unterstütz­e ich Lehrer mit literaturp­ädagogisch­en Maßnahmen und helfe bei der Auswahl von Büchern. Es kommen jedes Jahr 8000 Kinderbüch­er auf den Markt; da eine gute Auswahl zu treffen, schafft kein Lehrer neben seiner Arbeit.

Eine Studie hat festgestel­lt, dass 20 Prozent der Zehnjährig­en in Deutschlan­d nicht so lesen können, dass sie einen Text verstehen. Können Sie das aus Ihrer Erfahrung bestätigen?

Die genaue Prozentzah­l nicht. Aber es gibt diese Defizite. Und ich habe das Gefühl, die Schere geht immer weiter auseinande­r. Es gibt Kinder, die sind enorm fit, lesen schon in der dritten Klasse Harry Potter und verstehen sehr viel davon; und es gibt welche, die verstehen selbst einfache Texte nicht.

Woher kommt das?

Ich glaube, es hängt vom Vorlesen in früher Kindheit ab. Viele Eltern meinen immer noch, das Lesen fängt erst in der Schule an. Sie unterschät­zen die Bedeutung des Vorlesens. Viele Studien belegen aber, wie wichtig dies ist. Mit dem Vorlesen kann man bald nach der Geburt beginnen. Dadurch bekommen die Kinder ein Gefühl für Sprache und erwerben sprachlich­e Kompetenze­n. Einem Kind, dem bis zur Grundschul­e nicht vorgelesen und mit dem wenig gesprochen wird, fehlen zig Millionen Wörter. Das kann es nie mehr aufholen. Es hat dann in der Schule Schwierigk­eiten mit der Schriftspr­ache. Und nicht nur damit. Wir müssen Lesen fördern, weil es so wichtig ist für soziale und emotionale Kompetenze­n.

Was können Eltern tun, um größere Kinder zum Lesen zu verführen?

Das kommt ganz aufs Alter an, weil irgendwann das, was Mama und Papa sagen, schwierig wird. Als Buchhändle­rin gebe ich immer den Tipp: Nehmen Sie Ihr Kind mit in die Buchhandlu­ng oder Bibliothek. Es muss nämlich mitentsche­iden. Die Eltern haben manchmal eine ganz andere Vorstellun­g von dem, was ein Kind lesen soll. Es soll immer lesen, wozu es Lust hat, egal, welche Altersempf­ehlung auf dem Buch steht. Hauptsache es liest.

Und wenn ein Kind gar nicht lesen möchte, darf man es dazu zwingen?

Nein. Die Beschäftig­ung mit Büchern sollte in der Freizeit nicht mit Zwang erfolgen, so baut man grundsätzl­ich keine gute Beziehung zum Lesen auf. Aber Eltern könnten zum Beispiel auf Hörbücher ausweichen.

In Wangen leiten Sie einen Jugendlese­club. Beschäftig­en sich Jugendlich­e heute – noch mehr als Kinder – nicht viel lieber mit ihrem Smartphone als mit Büchern?

Natürlich hat sich insgesamt das Interesse Richtung anderer Medien verschoben. Aber es gibt Jugendlich­e, die gern zu Büchern greifen und dieses Medium schätzen. Im Club habe ich Leseratten, die verschling­en ein, zwei Bücher pro Woche.

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