Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Im perfekten Sturm
Die Börse Stuttgart profitiert von den Turbulenzen an den Finanzmärkten
RAVENSBURG - Während die Wirtschaft über wegbrechende Umsätze klagt, erreichen selbige bei Börsenbetreibern neue Rekorde. Die Börse Stuttgart etwa registrierte im April einen Handelsumsatz von neun Milliarden Euro – 60 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahresmonat. Im Horrormonat März, als die Börsen weltweit auf Talfahrt gingen, schnellte das Handelsvolumen sogar auf 15 Milliarden Euro. Ähnliche Zahlen präsentierte jüngst auch Branchenprimus Deutsche Börse. Dort stieg der Umsatz mit Aktien, Anleihen und börsengehandelten Fonds im April um 43 Prozent auf 173 Milliarden Euro. Im März wurde sogar die Marke von 300 Milliarden Euro geknackt.
Einmal mehr zeigt sich: Wenn die Kurse wild in alle Richtungen ausschlagen, brechen glänzende Zeiten für Börsenbetreiber und Onlinebroker an. Die kräftig steigenden Umsätze füllen die Kassen der Unternehmen, die an den Gebühren für jede Transaktion und an anderen Serviceleistungen verdienen. Und so verwundert es nicht, dass Dragan Radanovic, Geschäftsführer Märkte und Börsenbetrieb der Börse Stuttgart, den vergangenen Wochen durchaus Positives abgewinnen kann. Das Geschäft brummt. „Wir werden aller Voraussicht nach unsere Planzahlen für dieses Jahr übertreffen“, erklärt Radanovic im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Doch selbst für einen gestandenen Börsenprofi wie Radanovic, der seit 20 Jahren in diversen Positionen im Handel der Börse Stuttgart tätig ist und etliche Börsencrashs erlebt hat, waren die vergangenen Wochen eine neue Erfahrung. Denn die Panik, die Anleger im Februar und März erfasst hat, ist beispiellos. Vom 19. Februar bis zum 18. März, dem vorläufigen Tiefpunkt des CoronavirusAbverkaufs, hat der Dax 39 Prozent seines Wertes verloren. Im Vergleich zu früheren Börsencrashs ist das der schnellste Verlust, den es je gab. Noch nie in seiner mehr als 30-jährigen Geschichte hat das wichtigste deutsche Börsenbarometer nach seinem Höchststand in gerade einmal 28 Tagen so viel an Wert eingebüßt – nicht einmal während der globalen Finanzkrise 2008. Um einen Verlust von ähnlichem Ausmaß anzuhäufen, dauerte es damals mehr als dreimal so lange.
Wie heftig der Stress der Anleger zuletzt war, zeigt sich auch am sogenannten Angstbarometer, dem Volatilitätsindex
Vdax. Dieser misst die erwartete Schwankungsbreite für den Leitindex Dax. In ruhigen Marktphasen liegt ein mittlerer Wert für den Vdax bei rund 20 Punkten. Mitte März ist er auf 86 Punkte hochgeschnellt. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Oktober 2008 hat der Index solche Werte erreicht.
In diesem extremen Marktumfeld sind die Handelssysteme der Börse Stuttgart mit Wertpapieraufträgen geflutet worden. An einigen Tagen im März wurden mehr als 80000 Kauf- und Verkaufsaufträge ausgeführt – mehr als viermal so viele wie im Durchschnitt und ohne nennenswerte Ausfälle oder Störungen, wie Radanovic berichtet. An der ein oder anderen Stelle, so der Manager, hätten einzelne unterstützende Systeme kurz unter der enormen Volatilität „gewackelt“– doch unter dem Strich seien die Kernsysteme sehr stabil gelaufen und hätten einen reibungslosen Handel sichergestellt.
Das gleiche macht der Manager auch für die Handelsqualität geltend. Darunter wird gemeinhin eine ausreichende Anzahl von gestellten Kursen sowie insbesondere die Höhe und die Stabilität des Spreads, also der Differenz zwischen An- und Verkaufskurs, verstanden. Für Anleger ist das gerade in extremen Marktsituationen von enormer Bedeutung. Denn ein plötzlich steigender Spread geht bei Käufen oder Verkäufen von Wertpapieren immer zulasten des Anlegers, schmälert dessen Gewinne oder vergrößert dessen Verluste.
Dass diese Spreads bei verbriefen Derivaten wie Zertifikaten oder Hebelprodukten aber auch bei börsengehandelten Indexfonds mitunter deutlich stiegen, gesteht Radanovic ein. Insgesamt sei der Handel aber fair und die Preise marktgerecht gewesen. Nur bei Anleihen habe es zeitweise größere Probleme gegeben. Allerdings lagen die Gründe dafür nicht im Einflussbereich der Börse Stuttgart. Wegen der geringen Liquidität und dem nicht vorhandenen Kaufinteresse seien die Kurse mitunter ins Bodenlose gefallen. Erst die Ankündigung der Europäischen Zentralbank, für 750 Milliarden Euro Bonds kaufen zu wollen, habe die Situation entspannt.
Dabei musste Radanovic und sein Team improvisieren, um die Ansteckungsgefahr unter den Händlern zu minimieren. Anfang März wurde der Handelssaal der Börse Stuttgart zweigeteilt, wenig später in einem Nebenflügel des Gebäudes ein dritter Handelssaal eröffnet. Und als den Börsenbetreibern Mitte März durch die Bafin erlaubt wurde, den Handel auch außerhalb der Geschäftsräume abzuwickeln stieg die Hälfte der Mitarbeiter auf Remote-Arbeit ins häusliche Arbeitszimmer um. Seitdem wird ein Teil der Wertpapieraufträge an diversen Orten in und um Stuttgart bearbeitet. „Wir haben eine voll funktionierende virtuelle Börse“, sagt Radanovic stolz.
Etwas differenzierter dürfte das Fazit der vergangenen Wochen bei vielen Privatanlegern ausfallen. Zwar hat die große Masse nach Einschätzung von Marktbeobachtern Ruhe bewahrt und Wertpapierpositionen nicht verkauft. Durch die enormen Kursausschläge sind aber bei vielen sogenannte Stop-Loss-Orders zur Verlustbegrenzung ausgelöst und Aktienpositionen automatisch verkauft worden. Bei der Mitte März ansetzenden Kurserholung waren diese Anleger vielfach nicht mehr dabei.
Eine Aversion gegenüber der Anlage in Aktien, wie sie nach Crashs in der Vergangenheit zu beobachten war, ist gleichwohl nicht festzustellen. Im Gegenteil. Seit März steigt die Anzahl der Depoteröffnungen auf neue Rekorde. Vor allem Direktbanken haben in den vergangenen Wochen einen regelrechten Ansturm erlebt und kommen den vielen Anfragen kaum noch hinterher. Die größte Onlinebank Deutschlands, die DKB Bank, spricht von einem „außergewöhnlich starken Wachstum“bei Aktiendepots im März. Comdirect verzeichnete bei Neukundenanträgen einen Zuwachs von 50 Prozent, und die ING Bank hat nach eigenen Aussagen im ersten Quartal fast so viele Depots eröffnet wie im gesamten vergangenen Jahr.