Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Risiko mit mehreren Rednern „bewusst eingegangen“
Mitorganisator distanziert sich teilweise von Inhalten der Corona-Kundgebung auf dem Gänsbühl – Polizei schätzt Teilnehmerzahl auf 120
LEUTKIRCH - Eine zweite Kundgebung zur „Wahrung der Grundrechte“, mit der laut Ankündigungshandzettel die inzwischen zum Teil schon gelockerten Corona-Einschränkungen kritisch hinterfragt werden sollen, hat am Freitagabend auf dem Leutkirch Gänsbühl stattgefunden.
Während bei der ersten von den Leutkirchern Julian Aicher und Hartmut Krattenmacher angemeldeten Veranstaltung nur die beiden Organisatoren das Wort ergriffen, traten dieses Mal weitere Personen ans Mikrofon. Diese thematisierte etwa die schwierige Lage für Demenzkranke in der Isolation der Betreuungseinrichtungen. Teils äußerten Redner aber auch Inhalte, von denen sich Mitorganisator Julian Aicher auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“im Nachgang distanzierte.
Die Polizei vor Ort zählte am Freitagabend rund 120 Personen, die sich zur Kundgebung rund um den Gänsbühl versammelt hatten. Wie schon vor Wochenfrist, seien die Sicherheitsabstände offensichtlich größtenteils eingehalten worden, die Veranstaltung verlief friedlich.
Der erste Redner war Stefan Forstmeier aus Kempten, der die dortigen „Corona-Demonstrationen“mitorganisiere. Er erklärte, er sei in der Altenpflege tätig, und erzählte von Erfahrungen, die er in diesem Bereich in den zurückliegenden Wochen gemacht habe. Unter anderem kritisierte er, dass die Isolation in den Pflegeeinrichtungen in Verbindung mit den Schutzmasken vor allem für Demenzkranke sehr belastend sei, da für diese Mimik, Gestik und Berührungen sehr wichtig seien. Auch die Rednerin nach ihm, die sich als Eva-Maria vorstellte, kritisierte in einem emotionalen Bericht die Folgen der wochenlangen Isolation für demente, ältere Menschen und deren Angehörige, die sie persönlich schmerzlich habe erfahren müssen.
In eine deutliche andere Richtung ging anschließend der Inhalt des Vortrags einer jungen Frau, die sich als „Fränzi“vorstellte. Sie behauptete unter anderem, dass Presse, Politik und Wirtschaft unter einer Decke stecken würden. Das aktuelle politische System, so die Rednerin, sei nicht „die wahre Demokratie“; um eine solche zu erreichen, müsse man sich erst aus dem „Merkel-Regime“befreien. In dieser „Demokratie“könne dann auch eine freie Presse eingeführt werden, die es ihrer Meinung nach derzeit nicht gebe.
Um das Coronavirus selbst, führte sie weiter aus, müsse man sich als gläubiger Mensch keine Sorgen machen – schließlich könne man auf das eigene Immunsystem vertrauen, das Gott dem Menschen mitgegeben habe. Und andernfalls würden in der Natur vorhandene Heilkräfte helfen.
Während die junge Frau für ihren Beitrag auf dem Gänsbühl lauten Applaus bekam und Mitorganisator Krattenmacher erklärte, das „spricht mir aus dem Herzen“, reagierte Aicher am Samstag auf SZ-Nachfrage verhalten. Teile der im entsprechenden Beitrag geäußerten Inhalte teile er so definitiv nicht. Unter anderem gebe es seiner Meinung nach durchaus eine freie Presse und die Pressefreiheit sei gegeben.
Angesprochen darauf, dass gemäß der Rednerin dem Coronavirus – dem inzwischen nach Zählung der Johns Hopkins Universität weltweit über 300 000 Todesfälle zuzuordnen sind – mit Naturheilmitteln entgegengewirkt werden könne, erklärte
Aicher lediglich, dass er selbst „kein Anhänger der reinen Naturmedizin“sei. Als Organisatoren der Kundgebung seien sie das Risiko durchaus „bewusst eingegangen“, zweifelhaften Inhalten eine Bühne zu bieten, wenn auch andere Redner ans Mikrofon treten, sagte Aicher im Gespräch mit der SZ.
Aicher las am Ende der Kundgebung aus dem umstrittenen Schreiben katholischer Würdenträger vor – das unter anderem Gerhard Ludwig Müller, der frühere Regensburger Bischof und einstiger Vorsteher der vatikanischen Glaubenskongregation unterzeichnet hat –, in dem im Zusammenhang mit den Einschränkungen zur Eindämmung der CoronaPandemie von „fremden Mächten“die Rede ist, die eine „Politik der drastischen Bevölkerungsreduzierung“und den beunruhigenden „Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung“darstellten. Der Text mit dem Titel „Aufruf für die Kirche und für die Welt“stammt vom 7. Mai (SZ berichtete).
Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hat sich deutlich „von diesen gefährlichen Theorien“distanziert: „Wer die Bemühungen der Politik, Menschenleben vor dem Coronavirus zu schützen, in eine dubiose Weltverschwörung umdeutet, spielt mit dem Feuer“, wird Fürst in der Mitteilung der Diözese zitiert.