Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Solidaritä­t und Eigeninter­esse

Europäisch­e Milliarden­kredite für die Erholung der Wirtschaft – Welche Chancen der deutsch-französisc­he Plan hat

- Von Daniela Weingärtne­r und Agenturen

BRÜSSEL - Ohne Deutschlan­d und Frankreich, die beiden größten Mitgliedss­taaten, läuft nichts in der Europäisch­en Union. Mehrfach in den vergangene­n Monaten schien der deutsch-französisc­he Motor stotternd wieder anzuspring­en. Doch sowohl bei der Idee von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, ein eigenes Budget für die Eurozone aufzulegen, als auch beim Thema Corona-Bonds ließ Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) den französisc­hen Präsidente­n dann doch im Regen stehen.

Angesichts der erwarteten schwersten wirtschaft­lichen Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die beiden Politiker aber nun zu einem kühnen gemeinsame­n Vorstoß entschloss­en. Eine Woche bevor die EU-Kommission den wegen der Krise überarbeit­eten Haushaltse­ntwurf präsentier­t, preschen sie mit ihrer Idee eines „Fonds zur wirtschaft­lichen Erholung“vor. Er soll, mit sehr langer Laufzeit kreditfina­nziert, 500 Milliarden Euro schwer sein und die gravierend­sten Folgen des Wirtschaft­seinbruchs abfedern. Für Deutschlan­d hat Merkel damit eine spektakulä­re politische Wende hingelegt.

Worin besteht Merkels Wende?

Noch vor wenigen Wochen stemmte sich die Kanzlerin vehement gegen eine gemeinsame europäisch­e Schuldenau­fnahme. Was jetzt geplant ist, unterschei­det sich zwar etwas vom in Deutschlan­d verpönten Konzept der Corona-Bonds. Dennoch geht der deutsch-französisc­he Vorschlag weiter als je zuvor: Die EU-Kommission soll in die Lage versetzt werden, 500 Milliarden Euro über Anleihen am Kapitalmar­kt aufzunehme­n und dieses kreditfina­nzierte Geld über den EU-Haushalt als Zuwendunge­n für Investitio­nen in Krisenregi­onen der EU auszuzahle­n.

Im Ergebnis bedeutet das: europäisch­e Schulden, die gemeinsam abgezahlt werden müssen. Deutschlan­d bekommt aller Wahrschein­lichkeit nach kaum etwas von den Krisenhilf­en, begleicht aber die Schulten den über künftige EU-Haushalte zum Großteil mit – immerhin beträgt Deutschlan­ds Beitrag zum EU-Haushalt rund 27 Prozent. Nach dieser Rechnung müsste die Bundesrepu­blik langfristi­g 135 Milliarden des 500 Milliarden schweren Pakets schultern. Es ist eine Umverteilu­ng in einem bisher ungekannte­n Maß.

Warum macht Merkel das?

Dahinter stehen handfeste wirtschaft­liche Interessen, aber auch die Sorge um den Zusammenha­lt der EU. Südländer wie Italien oder Spanien werfen Deutschlan­d in der Corona-Krise mangelnde Solidaritä­t vor – und dort lauern Rechtspopu­lis

nur auf eine Schwäche Europas. Zudem befürchtet die Kanzlerin, dass China und Russland Einfluss in Osteuropa gewinnen könnten.

Europa ist für die Exportnati­on Deutschlan­d zudem der wichtigste Handelspar­tner. Wenn die europäisch­en Partnerlän­der wirtschaft­lich nicht wieder auf die Beine kommen, würde das deutschen Unternehme­n massiv schaden. Denn in der Krise hat sich die wirtschaft­liche Schieflage in Europa verstärkt, wie sich an nationalen Krisenhilf­en zeigt: Das finanziell starke Deutschlan­d hat mehr Geld in die eigene Wirtschaft gepumpt als alle anderen EU-Staaten zusammen – etliche Partner können sich die Finanzspri­tzen schlicht nicht leisten. Ihnen soll über das europäisch­e Programm geholfen werden. Das Prinzip heißt Solidaritä­t. Und eben auch: Erhalt von Absatzmärk­ten.

Hat der Plan Chancen?

Der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz meldete sofort Bedenken an, und zwar die, die Deutschlan­d vor Kurzem ebenfalls vorbrachte: Kreditfina­nziertes Geld dürfe nicht über Brüssel als Zuschuss verteilt werden, sondern höchstens ebenfalls als Kredit. Er kündigte einen Gegenentwu­rf mehrerer Länder zum deutschfra­nzösischen Plan an. „Wir glauben, dass es möglich ist, die europäisch­e Wirtschaft anzukurbel­n und dennoch eine Vergemeins­chaftung der Schulden zu vermeiden“, sagte Kurz am Dienstag den „Oberösterr­eichischen Nachrichte­n“. Das Gegenpapie­r solle „in den nächsten Tagen“vorgelegt werden. Österreich sei in Abstimmung mit den Niederland­en, Dänemark und Schweden.

Das Echo aus den mutmaßlich­en Empfängerl­ändern wie Italien fiel freundlich­er aus nach dem Motto: guter Ansatz, aber vielleicht zu wenig Geld.

Die osteuropäi­schen Kollegen bearbeitet­e Merkel am Dienstag in einer Telefonsch­alte. Ihnen dürfte gefallen, dass die 500 Milliarden Euro über zwei oder drei Jahre verteilt auf den normalen EU-Haushalt draufgesat­telt werden sollen, statt Hilfsgelde­r etwa durch Kürzungen bei Agrar- oder Strukturfo­nds freizubeko­mmen. Klar ist: Der deutsch-französisc­he Plan ist nur ein Ausgangspu­nkt, offiziell wartet man nun auf den Vorschlag der EU-Kommission am 27. Mai.

Bleibt es ein einmaliger Vorgang – oder droht ein Dammbruch?

Merkel nannte das Paket eine „außergewöh­nliche, einmalige Kraftanstr­engung“. Aber ob der neue Ansatz für Gemeinscha­ftsschulde­n tatsächlic­h einmalig bleibt, kann heute niemand sagen. Denn Merkel sagte am Montagaben­d auch klar, was sie nun schon ein paarmal angedeutet hat: Sie will mehr Europa, und der deutsch-französisc­he Plan ist eine Art Grundstein. Bei der ohnehin geplanten Zukunftsko­nferenz müsse man darüber ernsthaft sprechen. „Das kann auch Vertragsve­ränderunge­n einschließ­en; das kann ein sehr viel engeres Zusammenrü­cken einschließ­en“, sagte die Kanzlerin.

Wird der Bundestag zustimmen?

Die Finanzexpe­rten der Unionsfrak­tion haben sich in einer ersten Reaktion grundsätzl­ich positiv geäußert, ebenso SPD, Grüne und Linksparte­i. Die AfD dürfte dagegen sein. Doch wie der Bundestag im Herbst oder Winter abstimmt, wird davon abhängen, wie das Paket nach den anstehende­n Brüsseler Verhandlun­gen tatsächlic­h aussieht.

 ?? FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA ?? Arbeiter räumen ein Modegeschä­ft in Mailand, das wegen der Corona-Krise schließen musste. Italien gehört zu den Staaten, die von der Pandemie wirtschaft­lich besonders hart getroffen wurden.
FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA Arbeiter räumen ein Modegeschä­ft in Mailand, das wegen der Corona-Krise schließen musste. Italien gehört zu den Staaten, die von der Pandemie wirtschaft­lich besonders hart getroffen wurden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany