Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Zeiss geht nicht in die Defensive
Karl Lamprecht gerät als neuer Zeiss-Chef gleich zu Beginn in schwere See
OBERKOCHEN/RAVENSBURG – Der Wechsel an der Spitze eines großen Unternehmens wird gern mit dem Sprung ins kalte Wasser verglichen. Die neue Situation bringt schon in normalen Zeiten jede Menge Herausforderungen mit sich. Doch für Karl Lamprecht, seit dem 1. April Chef des Optik- und Technologiekonzerns Zeiss aus Oberkochen, war die Amtsübernahme alles andere als normal. „Ich bin froh, schwimmen gelernt zu haben“, sagte der gebürtige Österreicher rückblickend auf die ersten Wochen an der Spitze des Milliardenkonzerns. Die Wellen seien doch etwas höher gewesen und er habe mehr Wasser geschluckt als erwartet.
Dabei kennt Lamprecht Zeiss inund auswendig. Seit 2005 ist er im Unternehmen, 2017 wurde ihm die Leitung der wichtigen Halbleitersparte anvertraut. Im vergangenen September dann die Berufung an die Firmenspitze, als Nachfolger des langjährigen und hoch geschätzten Vorstandschefs Michael Kaschke. Doch auf das, was zu Beginn des Jahres, ausgehend von China, auf ihn und seine 32 000-köpfige Mannschaft zurollte, konnte sich Lamprecht nicht vorbereiten. „Wir waren durch unser starkes Chinageschäft sehr früh vom Coronaausbruch betroffen. Dass die Pandemie aber so heftig auf uns rüber schwappt haben wir nicht erwartet“, gestand der Manager bei der Präsentation der Halbjahreszahlen am Dienstag ein.
Das, was sich in China in den vergangenen Monaten abgespielt hat, schlägt nun, „phasenverschoben“, wie der promovierte Physiker Lamprecht erklärte, in den anderen Regionen der Welt Zeiss aufs Geschäft. Noch im ersten Quartal des laufenden Geschäftsjahres 2019/20 (30. September) sei der Konzern im Reich der Mitte auf einem guten Kurs gewesen, seien die Auftragseingänge prozentual zweistellig gestiegen. Im Vergleich zum Vorjahr habe sich der Umsatz dann im Februar aber fast halbiert. Inzwischen befinde sich China wieder „voll im Aufschwung“.
Da Europa und Amerika im Pandemiezeitplan rund zwei Monate hinter China liegen fallen die Halbjahreszahlen von Zeiss unter dem Strich gar nicht so verheerend aus. Der Umsatz stieg um sechs Prozent auf 3,2 Milliarden Euro. Auch das Betriebsergebnis (Ebit) lag mit 455 Millionen Euro leicht über dem Niveau des Vorjahres (443 Millionen Euro).
Doch im Gesamtjahr dürfte das Zahlenwerk deutliche Bremsspuren aufzeigen. „Im zweiten Quartal hat es uns bereits erwischt, im dritten Quartal wir es uns noch schwerer treffen. Deshalb rechnen wir sowohl für den Umsatz als auch für das Betriebsergebnis aufs Gesamtjahr gerechnet mit Rückgängen“, gab Lamprecht einen Ausblick und bilanzierte, das erste Halbjahr „insgesamt gut“abgeschlossen zu haben.
Tatsächlich gibt die Zeiss-Bilanz diese Einschätzung her – vor allem Dank der Halbleitersparte. „Hier spüren wir Covid-19 überhaupt nicht“, sagte Lamprecht. Mit einem Umsatzwachstum von 18 Prozent auf 904 Millionen Euro eilt dieser Geschäftsbereich allen anderen voraus. Zeiss baut hier hochkomplexe Optiken für sogenannte Lithografiesysteme, mit denen Computerchips hergestellt werden. Bei der neuesten Generation dieser Lithografiesysteme, die mit extrem-ultraviolettem
Licht (EUV) arbeiten und feinste Chipstrukturen ermöglichen, haben Zeiss und seine Kooperationspartner ASML und Trumpf ein Monopol. Weltweit gibt es keinen Konkurrenten, der diese Technologie beherrscht. Der lange Atem, den das Konsortium bei der Entwicklung mitgebracht habe, zahle sich nun aus, sagte Lamprecht, EUV sei in den Chipfabriken von TSMC, Samsung und Intel angekommen.
In den Sparten Medizin- und Messtechnik ist der Anstieg wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie dagegen deutlich moderater ausgefallen als in den vergangenen Jahren. Im Geschäft für Verbraucher mit Brillen, Ferngläsern und Objektiven ging das Wachstum wegen geschlossener Optikgeschäfte sogar etwas zurück.
Für die nächsten Monate gab Lamprecht als Devise aus, das Unternehmen „stabil durch die Krise zu steuern“. Das schließe die Mitarbeiter ein, die sich stand heute keine Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen müssten – auch wenn aktuell rund 4000 Zeissianer in Deutschland in Kurzarbeit seien. Bei diesem Vorhaben kommt Zeiss zugute, dass sich der Konzern nach einem zehnjährigen Konjunkturaufschwung seit geraumer Zeit mit verschiedenen Maßnahmen auf mögliche Krisen vorbereitet – etwa in dem weltweite Lieferketten abgesichert und das Liquiditätsmanagement zentralisiert werden.
Lamprecht ist überzeugt, mit Zeiss gestärkt aus dieser schwierigen Phase herauszukommen und im Anschluss „sofort auf Wachstum zu schalten“. Bei Investitionen – vor allem im Bereich Digitalisierung – will der Manager deshalb auch nicht locker lassen und „Marktchancen nutzen“sowie die hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die zuletzt bei zwölf Prozent des Umsatzes lagen, beibehalten. „Zeiss lebt von Innovationen. Ich sehe keinen Grund für einen Kurswechsel“, sagte Lamprecht, der damit die Strategie seines Vorgängers Kaschke im Wesentlichen fortsetzen will.
Etwas ließ sich Lamprecht dann aber doch noch entlocken: Zeiss sei strategisch gut aufgestellt, von den weltweiten Megatrends zu profitieren. Doch digitale Themen müssten an mancher Stelle „aggressiver angefasst werden“. Er jedenfalls sei vom Typ her ein „umsetzungsgetriebener Unternehmer“. Die aktuelle Situation ist dafür nicht die Schlechteste. Sie biete nicht nur die Chance, etwas zu verändern, so Lamprecht. Da die Herausforderung externer Natur sei, schweiße deren Bewältigung auch die Mannschaft zusammen.