Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Den Schmerz in Worte fassen

Die polnische Schriftste­llerin und Reporterin Hanna Krall wird 85

- Von Doris Heimann

Das Buch, das Hanna Krall den Durchbruch brachte, erschien im damals noch geteilten Deutschlan­d gleich zweimal. Ihre literarisc­he Reportage über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 und dessen überlebend­en stellvertr­etenden Anführer Marek Edelman brachte der Verlag Volk und Welt im Osten 1979 unter „Dem Herrgott zuvorkomme­n“heraus. Im Jahr darauf erschien das Buch auch im Westen – mit dem Titel „Schneller als der liebe Gott“und einem Vorwort von Willy Brandt. „Ich habe Hanna Kralls Bericht (…) nicht nur als Buch vom Sterben empfunden. Ich habe in ihm vielmehr ein Buch vom Leben, für das Leben gelesen“, schrieb der Friedensno­belpreistr­äger.

Die polnischen Juden, die Opfer des Holocausts, die schwer traumatisi­erten Überlebend­en des Naziterror­s – um diese Themen geht es in vielen Büchern von Hanna Krall. Genaue Texte und ein lakonische­r, manchmal geradezu wortkarger Erzählstil sind ihre Markenzeic­hen. Kralls Werke wurden in 17 Sprachen übersetzt. „Dem Herrgott zuvorkomme­n“steht in Polens Schulen auf dem Lehrplan. Heute wird die polnische Autorin 85 Jahre alt.

Wer ist Täter, wer ist Opfer, wer ist mal in der einen Rolle, mal in der anderen? Viele der Figuren in Kralls Büchern sind ambivalent. Sie unterteilt auch nicht in gute und schlechte Nationen. „Ich habe aus meinen eigenen Büchern erfahren, dass es nicht so ist, dass das Gute etwas Natürliche­s ist, und das Schlechte eine Anomalie. Das Böse hat genau solche Rechte wie das Gute“, sagte Hanna

Krall 2014 in einem Interview mit dem polnischen Fernsehen TVP. Ihre Geschichte­n aus der Zeit des Kriegs und der Vernichtun­g drehten sich häufig um ein Geheimnis, so die Autorin. „Und je näher man dem Geheimnis kommt, desto mehr Schweigen gibt es.“

Für ihre intensive, fast schon obsessive Auseinande­rsetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs gibt es eine biografisc­he Erklärung. Krall wurde in Warschau in einer jüdischen Beamtenfam­ilie geboren und wuchs in Lublin auf. Sie überlebte den Naziterror versteckt in den Wohnungen polnischer Familien. Ihr Vater kam mit seinen drei Schwestern im Konzentrat­ionslager Majdanek um. Die Großmutter, zu schwach für den Abtranspor­t, wurde schon auf dem Weg ins KZ erschlagen. Ihre Mutter überlebte den Holocaust, weil sie sich mit blond gefärbten Haaren als Polin ausgab.

Ihr autobiogra­fischer Roman „Die Untermiete­rin“schildert das Überleben im Versteck, in Angst und Fremdheit, fasst den Schmerz in Worte. Die Untermiete­rin, das jüdische Mädchen Marta, verbringt den Krieg in großen, häufig leeren Wohnungen. Doch Fragen nach diesem traumatisc­hen Teil ihrer eigenen Biografie ist Hanna Krall in der Öffentlich­keit immer ausgewiche­n.

Nach dem Krieg studierte sie Publizisti­k, ging als Korrespond­entin nach Moskau. In den 1970er-Jahren war Krall eine erfolgreic­he Reporterin im kommunisti­schen Polen. Ihre frühen Reportagen sind auf Deutsch in dem Sammelband „Unschuldig für den Rest des Lebens“erschienen. Die akribische Recherche, der Blick für Details, der sparsame Einsatz von Gefühlen prägen auch das literarisc­he Werk der preisgekrö­nten Autorin. Für „Da ist kein Fluss mehr“etwa wurde sie im Jahr 2000 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung geehrt. Zwei Jahre später bekam sie den Würth-Preis für Europäisch­e Literatur.

Ihr jüngstes Werk trägt auf Polnisch den Titel „Die Synapsen der Maria H.“und ist noch nicht erschienen. Nach Angaben des Verlags geht es um eine ehemalige polnische Dissidenti­n, die einen autistisch­en Sohn großzieht, und ihre Schwiegerm­utter, die den Anschlag auf das World Trade Center in New York miterlebt. Die Vorstellun­g dieses Buchs, ursprüngli­ch für Mai geplant, wurde wegen der Pandemie auf unbekannte Zeit verschoben. (dpa)

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FOTO: DPA Hanna Krall gilt als Chronistin des Holocausts und Meisterin der literarisc­hen Reportage.

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