Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Wir Verrückten
Was das Leben mit dem Virus aus vernünftigen Menschen gemacht hat
So richtig schlecht gegangen ist es uns ja nicht während der Kontaktsperre. War doch auch ganz schön, mal mit Fug und Recht die Schule und das Büro zu schwänzen. Keinerlei Mangel mussten wir leiden – mit Ausnahme der anfänglichen Klopapier-Krise, die ja eher ein Witz war. Wenn wir nicht gerade die Erziehung quengelnder Kleinkinder mit der Organisation professioneller Videokonferenzen vereinbaren mussten, haben wir es uns im Lockdown sogar ziemlich gemütlich gemacht. Zum Trost sehr lecker gegessen, gegen die Befürchtungen ein Gläschen Wein mehr getrunken, vermutlich ein paar Kilo zugelegt. Der Alltag war in seiner Einschränkung so sauber festgelegt, dass manche innere Unruhe verschwand.
Denn es war ja nicht nur der Stillstand täglicher Pflichten, sondern auch der Ausfall der tausend bunten Möglichkeiten, die uns üblicherweise umtreiben: Fitnessstudio hier, Familienfest da, Stammtisch, Sonntagsausflug, Theaterabo, Städtereise. Natürlich könnte man auch sonst auf das eine oder andere verzichten, aber dann hätte man das unangenehme Gefühl, das Leben zu verpassen oder die Freunde zu kränken. Wie Höhlenmenschen der Moderne, gesegnet mit Streamingdiensten und Zentralheizung, haben wir uns eingekuschelt und unsere Neurosen gepflegt.
Wie es Höhlenmenschen so an sich haben, lernten wir schnell, nur der eigenen Sippe zu trauen und den anderen da draußen als potenzielle Gefahr anzusehen. Plötzlich fanden wir es total beruhigend, dass die Grenze zu unseren Nachbarländern geschlossen und Europas Einigkeit mal eben auf Eis gelegt wurde. Sogar beim Spazierengehen wollte man lieber ganz allein bleiben. Mehr als einmal habe ich um Familien, die mir entgegenkamen, einen irrationalen Bogen gemacht, und Jogger angepfiffen, die zu nahe an mir vorbeischnauften: „Hey, muss das sein?“Das atemberaubende Erlebnis des Einkaufens mit Mund-Nasen-Schutz macht mich immer noch nervös, und ich bin erleichtert, wenn ich nach Hause komme, die Tür hinter mir zumachen kann. Hände waschen, aufatmen.
Freunde zu umarmen oder gar mit Küsschen-Küsschen zu begrüßen, kann sich derzeit keiner vorstellen. Hände schütteln? Igitt! Dafür kennen wir Geschichten über wachsame Nachbarn, die während der Kontaktsperre nach der Polizei gerufen haben, weil sie eine unbotmäßige Plauderei im Vorgarten nebenan anzeigen wollten. Und plötzlich ist er wieder da, der kleine fiese Denunziant hinter der Gardine. Selbst die Polizei wünschte sich in den vergangenen Wochen mancherorts mehr Gelassenheit. Wir erlebten ein Deutschland wie in „Krähwinkels Schreckenstagen“, über die der Freiheitsdichter Heinrich Heine 1854 seine Vormärz-Spottverse schrieb: „Wo ihrer drei beisammen stehn, da soll man auseinander gehn.“Manche Mitbürger reagierten dermaßen hysterisch auf Regelverletzungen, dass ihnen auch schärfere Maßnahmen gefallen hätten: „Der gehört abgeführt!“hörte man so manches Mal.
Das ist schon ziemlich crazy, und man kann nur hoffen, dass wir eines Tages, wenn das Virus dank der Pharma-Forschung und der Stimme der Vernunft hoffentlich unter Kontrolle gebracht wurde, zu Toleranz und Offenheit zurückfinden. Derzeit muss bedauerlicherweise festgestellt werden, dass Angst und Wut etliche verwirrte Mitmenschen auf das weite Feld der Verschwörungstheorien getrieben haben. Einen Chef-Bösewicht haben sie auch schon ausgemacht: Bill Gates, der Multimilliardär und Big Spender, ist der Dr. Mabuse im Psychothriller dieser Gesellschaftskreise.
Dagegen sind die kleinen Irrsinnigkeiten der neuen Normalität ja harmlos. Kaum hatten wir uns vorgenommen, unnützen Müll möglichst zu vermeiden, so erzeugten wir im Lockdown durch
Bestellungen und To-GoService beängstigende Berge von Kartons, Plastikfolien und Alu-Packungen, ganz zu schweigen von weggeworfenen EinwegLatex-Handschuhen und Feuchttüchern am Wegesrand. Nun ja, ökologisch denken wir dann später.
Immer wieder verwendet wird immerhin die waschbare, virologisch nicht ganz einwandfreie Maske für Mund und Nase. An die haben wir uns irgendwie gewöhnt. Sie wird mittlerweile sogar allerliebst gestaltet. Begabte Näher und Näherinnen stellen sie in Heimarbeit selbst her, viele Läden bieten sie zur Neueröffnung als Nebenprodukt an. Fashion-Victims wissen, dass sie im Netz auch passende Masken zu Prada-Pumps und LouisVuitton-Täschchen finden können. So ein braun gemustertes Seidenläppchen mit Ohrenbändern im Fendi-Look kostet da schlappe 190 Euro. Ist aber gerade ausverkauft. Andere Firmen empfehlen die Maske selbst als Markenprodukt. Die Firma „Masked“aus Seukendorf zum Beispiel macht „Masken salonfähig“, bietet eine ganze Kollektion, nur echt mit dem aufgenähten Etikett, und empfiehlt das Tragen dieses neuen „modischen Accessoires“für 24,90 Euro ganz unabhängig von Corona – wegen der „schlechten Luftqualität“.
Die bloße Vorstellung verursacht mir Schnappatmung. Aber auch ich habe mir im Verlauf der Krise einige kuriose Produkte virtuell aufschwatzen lassen – von aufklebbaren Nagellackstreifen für die mondäne häusliche Maniküre (Einsteiger-Set für 48 Euro) bis zu einem Kling-Klong-Instrument, das mir und den Meinen wohlige Entspannung schenken sollte. „My Kalimba“ist eine Art Daumenklavier für musikalische Laien, das im Werbespot eine ganz süße Katze mit sphärischen Klängen beruhigt hat, was mich zutiefst überzeugte. Nach sechs Wochen ist mir das mit Kreditkarte bezahlte Ding endlich geliefert worden und liegt seither in einem Plastiksamt-Säckchen in der Schublade. Jedes Kinder-Xylophon macht mehr Sinn. Aber ich behalte es mal, als Erinnerung an eine total verrückte Zeit.