Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Schritt für Schritt zurück ins Leben
Vor einem Jahr verlor Sandra Humm bei einer Gasexplosion Mann und Tochter
RETTENBACH - Der Tod reißt eine Lücke in das Leben derer, die zurückbleiben. Im Ostallgäuer Rettenbach ist sie allgegenwärtig – und sichtbar. Von der Kreisstraße ein paar Meter den Berg hinab, hinein in das Wohngebiet, in dem eine der Straßen Sonnenseite heißt. An einer Straßenecke stand hier bis zum Morgen des 19. Mai 2019 ein Wohnhaus. Gegen 10 Uhr an diesem Sonntag zerstört eine verheerende Gasexplosion das Haus und die Familie, die darin lebt. Die Trümmer sind längst weggeräumt. Und eine Lücke tut sich nun auf zwischen den Grundstücken. Dort, wo das Haus stand, wächst heute eine Blumenwiese. In einer Ecke des einstigen Gartens steht noch immer ein Apfelbaum; mit letzten welken Blüten.
Das Eckhaus war bis vor einem Jahr das Zuhause von Sandra Humm. Bei der Explosion sterben ihr Mann Christian (42) und ihre damals sieben Jahre alte Tochter Anna. Die beiden Buben der Familie spielen zum Zeitpunkt des Unglücks auf einem nahen Spielplatz; sie bleiben körperlich unverletzt. Sandra Humm selbst wird aus dem Keller des zusammengestürzten Hauses gerettet und kommt mit lebensgefährlichen Brandverletzungen in ein Krankenhaus. Künstliches Koma, Intensivstation. Ende August hat sich ihr Zustand so weit gebessert, dass die Verlegung in eine Rehaklinik möglich ist. Erst Anfang Januar wird Sandra Humm aus der stationären Reha entlassen. Die Mutter und ihre beiden Söhne Florian (9) und Tobias (6) kämpfen sich in ihr neues Leben zurück.
„Mir geht es immer besser. Ich kann meinen Alltag nahezu alleine bewältigen und organisiere alles wieder selbst“, sagt Sandra Humm im Interview mit unserer Zeitung. Die körperlichen Verletzungen seien „erstaunlich gut verheilt“. Lediglich der rechte Arm und die Hand sind noch nicht voll funktionstüchtig. Zweimal pro Woche muss sie daher zur ambulanten Reha. Die seelischen Wunden heilen langsamer. „Es gibt natürlich auch Momente, in denen es ganz schlimm ist.“
Die 41-Jährige lebt jetzt mit den Söhnen nahe Erding. In ihrem Elternhaus hat sie eine Wohnung im Erdgeschoß bezogen. Die Familie fühle sich dort sehr wohl, sagt sie. Für die zwei Buben ist es schön, mit den Großeltern unter einem Dach zu leben. Auch Onkel und Tante wohnen in der Nähe. Während Sandra Humm in Krankenhaus und Rehaklinik war, kümmerten sich ihre Eltern, ihr Bruder und seine Frau intensiv um Tobias und Florian. „Meine Kinder haben das Ganze besser als erwartet verkraftet, es geht ihnen gut. Sie haben sich gut eingelebt und schnell Freunde gefunden.“Auch in der Schule gefalle es ihnen. Beide Buben spielen im Fußballverein.
Der neue Lebensmittelpunkt von Sandra Humm liegt in Oberbayern. Hier ist sie aufgewachsen, und hier sieht sie ihre Zukunft. Die Verbindung nach Rettenbach am Auerberg ist dennoch nicht abgerissen. Regelmäßig hat sie Kontakt zu Freunden und Bekannten in dem Ort, wo die Familie 2014 ein Haus baute. Gemeinsam mit den Söhnen war Humm etliche Male wieder dort. „Weil es einfach die zweite Heimat ist. Und dort viele Menschen leben, die in unseren Herzen sind“, sagt sie.
Die Anteilnahme am Schicksal der Familie war in der Region und darüber hinaus enorm. Sandra Humm hat daraus in schweren Momenten Kraft geschöpft. „Die Hilfsbereitschaft war und ist immer noch sehr hoch. Immer noch bekomme ich Spenden von allen möglichen Menschen. Das berührt mich sehr.“Die Familie, aber auch viele Freunde unterstützen sie auf ihrem Weg in eine neue Normalität. „Dafür bin ich sehr dankbar. Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.“
Eine Katastrophe wie diese hinterlässt Wunden, die nach einem Jahr noch längst nicht vernarbt sind. In Rettenbach denken die Menschen noch oft an den Unglückstag und die Familie Humm. „Das Ganze kann man nicht vergessen. Wir kommen jeden Tag an der Stelle vorbei. Dieses Unglück hat eine Lücke gerissen, die bleibt“, sagt eine Frau aus dem Wohngebiet. Die Nachbarn haben gegenüber des Unglücksortes eine kleine Gedenkstelle errichtet. Mit Kreuz, Blumen, Kerzen und einem Foto von Vater und Tochter. Am Jahrestag der Explosion wollen die Nachbarn eine Andacht halten.
Weil die Betroffenheit im Dorf noch immer so groß sei, will Bürgermeister Reiner Friedl gar nicht über dieses Unglück sprechen. Die Rettenbacher hätten „immer noch mit den Ereignissen zu kämpfen“, teilt er schriftlich mit. Und weil sich coronabedingt nur eine bestimmte Zahl von Menschen zusammenfinden darf, verzichtet die Gemeinde am Jahrestag auf eine Gedenkveranstaltung.
Warum sich die Katastrophe ereignete, ist noch nicht abschließend geklärt (siehe eigenen Artikel unten). Die Kernfrage ist: Wieso konnte überhaupt Gas in das Haus der Familie Humm gelangen und explodieren? Denn das Gebäude war gar nicht an eine Gasleitung angeschlossen. Lange Zeit hieß es, die Versicherung wolle erst zahlen, wenn die Schuldfrage geklärt ist. Doch in diesem Punkt gab es für Sandra Humm positive Nachrichten: Die Versicherung hat inzwischen die Verbindlichkeiten der Familie getilgt. Das zerstörte Haus war noch nicht abbezahlt.
Was wird die Zukunft bringen für die Mutter und ihre zwei Söhne? Sandra Humm muss sich eine neue Existenz aufbauen. Das will sie Schritt für Schritt angehen. „Im Moment plane ich nicht zu weit voraus.“Natürlich will sie wieder arbeiten. Ob wie früher in einem Büro, das lässt sie offen. „Da lasse ich mir noch etwas Zeit. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es auch beruflich klappen wird.“