Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Das Corona-Umbruch-Dilemma
Die Pandemie verschärft die Probleme, die die Südwest-Industrie mit dem Wandel in der Autobranche hat
TUTTLINGEN - Die Maschinen surren in der großen Werkshalle bei Chiron in Neuhausen ob Eck. Roboterarme schrauben an wohnwagengroßen CNC-Anlagen, die manch einer der Arbeiter für die Montage mit der Leiter besteigen muss. Aber es rattert nur auf der linken Hallenseite. Die 22 gelb markierten Felder rechts stehen so gut wie leer. Früher wanderten die Maschinen wie in der Fließbandfertigung alle paar Tage ein Feld weiter für den nächsten Produktionsschritt. Für jede fertige Anlage, die die Werkshalle verließ, rückte ein neuer Rohling nach. Damals baute Chiron noch die meisten Anlagen für die Autoindustrie. Seit Oktober ist das anders. Schon damals habe die Konjunktur geschwächelt, erklärt Claus Eppler, Leiter Forschung und Entwicklung. Corona habe die Lage zwar verschärft, sei aber das Problem, was ihn gerade am wenigsten umtreibt. Die größten Fragezeichen sieht er bei der Transformation der Automobilindustrie, weg vom Verbrennungsmotor. Eppler glaubt, dass die Produktionskapazität seines Unternehmens dabei nachhaltig schrumpfen wird.
Der Maschinenbau und die Automobilindustrie gehören zu den Kernbranchen im Südwesten. Im April und Mai verzeichneten Zuliefererbetriebe Umsatzeinbußen von bis zu 60 Prozent. Und die Erholung kommt nur schleppend in Gang. Auf einer Sommerreise hat sich Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) bei Unternehmen im Südwesten umgeschaut. Vor welche Herausforderungen sehen sich die Betriebe gestellt? Je nach Unternehmensgröße und Produktportfolio überwiegen andere Sorgen.
Bei Chiron rechnet man bis 2025 mit einem jährlichen Umsatzminus von gut 25 Prozent im Vergleich zu 2018. Das Jahr, in dem der Maschinenhersteller seinen Rekordumsatz von 498 Millionen Euro erzielte. Inwieweit sich dieser noch einmal toppen ließe, ist laut Claus Eppler fraglich. Grund dafür sei der Wandel hin zur Elektromobilität und anderen sauberen Antriebstechnologien. Obwohl das Geschäft zwar zu 60 Prozent von der Automobilindustrie, aber nur zu rund fünf Prozent vom Verbrenner abhängig sei. „Für den Verbrenner sind viel mehr Fertigungseinrichtungen nötig als für ein Elektroauto. Auch bei der Brennstoffzelle werden deutlich weniger Komponenten verbaut.“Noch dazu blieben die Verkaufszahlen für E-Autos bislang überschaubar, bedauert Eppler. Sechs Prozent des Umsatzes fließen in die Forschung und Entwicklung, in vollautomatische Maschinen und neue Geschäftsfelder. Aber noch können die Umsätze aus anderen Bereichen die Einbußen nicht ausgleichen. In der Medizintechnik zum Beispiel liege der Bedarf an Maschinen nur bei einem Zehntel dessen, was die Automobilindustrie bislang nachgefragt hat. Von der Politik wünscht sich Eppler zumindest etwas mehr Entlastung. Er fordert, die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes über den Jahreswechsel hinaus auf 24 Monate ausweiten zu können.
Unterstützung für diesen Vorschlag kommt aus Rietheim-Weilheim vom Mechatronik-Spezialisten Marquardt. Beide Konzerne haben bereits angekündigt Stellen abzubauen, wünschen sich finanziell mehr Planungssicherheit. Im Gegensatz zu Chiron macht die Transformation in der Autoindustrie Marquardt aber weniger zu schaffen: „Ich bin überzeugt, dass wir mit unseren Produkten richtig aufgestellt sind“, erklärt Prokurist Ludger Schönecker.
Sein Unternehmen verdient das Geld vor allem über antriebsunabhängige Bauteile wie Bedienelemente oder Autoschlüssel. Außerdem habe man schon 2013 mit der Entwicklung von Batteriemanagementsystemen (BMS) begonnen. „Sie sind die Schnittstelle zwischen Batteriezelle und Motor“, erklärt Schönecker. Steuerplatinen, Kabel und ein Gehäuse sollen dafür sorgen, dass sich die Batterien sauber auf- und entladen. Und dafür, dass auch wirklich kein Strom mehr fließt, wenn der Fahrer das Auto abstellt.
Besonders stolz zeigt sich Schönecker aber bei der Präsentation des Democars – ein Prototyp, mit dem Marquardt seine Vorstellung eines modernen Cockpit umgesetzt hat. Die Bedienung funktioniert rein über Touch- und Lichtsensoren. Das Unternehmen verspricht: Genau so wird die Zukunft aussehen. Bleibt nur die Frage: Wann ist es so weit? Solange die Krise andauert und die Hersteller sie nicht abnehmen, bringen die innovativen und technologieoffenen Produkte wenig.
15 Kilometer entfernt, in Königsheim, kann Andrea Lang nur spekulieren, wo die Reise mit ihrem Unternehmen hingeht. 2018 übernahm sie zusammen mit ihrem Bruder die Geschäftsführung bei Aicher Präzisionstechnik in dritter Generation. Der Familienbetrieb ist dabei, neue Geschäftsfelder zu erschließen, liefert aber vor allem Bauteile für Getriebe und Motoren. Insgesamt hänge das Geschäft zu 80 Prozent von der Automobilindustrie ab, sagt Lang. Und: „Wir sind noch sehr Verbrenner-lastig.“Ursprünglich hatte man dieses Jahr noch mit einem leichten Umsatzplus gerechnet, bevor die Kurve ab 2021 abflachen sollte. Statt 2,2 Millionen hätten sie in den „schlimmsten Monaten“die Hälfte oder sogar nur 600 000 Euro eingenommen. Sorgen mache sie sich vor allem auch, weil der Preisdruck immer stärker werde. „Die Fahrzeughersteller drücken ständig die Preise. Für das kommende Jahr um fünf Prozent. Irgendwann lässt sich aber nichts mehr drücken. Wo sollen wir das hernehmen?“, fragt sich Lang und überlegt in ihrer Verzweiflung sogar, ob die Politik nicht eingreifen könne.
Dass es so weit nicht kommen wird, weiß Lang genau wie die Wirtschaftsministerin. HoffmeisterKraut sagt: „Wir wollen als Staat nicht der bessere Unternehmer sein. Wir können nur eine bessere Infrastruktur bereitstellen und für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen.“Aber eben nicht regulieren. Sie habe aber großes Vertrauen in die Mittelständler im Südwesten, sagt Hoffmeister-Kraut. Die Betriebe seien viel schneller, kreativer und agiler als Großunternehmen. Mehrfach lobt die Ministerin die Unternehmen als Weltmarktführer und Hochkaräter. Und zeigt sich optimistisch, dass das so bleibt.
Trotzdem fühlt sich Andrea Lang als verhältnismäßig kleiner Mittelständler etwas verloren. Sie zählt 180
Mitarbeiter, bei Chiron sind es 2100, bei Marquardt sogar mehr als 10 000. „Für manche Programme sind wir zu klein, für andere zu groß“, bedauert Lang und nennt als Beispiel die Überbrückungshilfen, die Bund und Land in der Krise ausschütten. Wenn alles gut geht, rechnet man bei Aicher mit 50 000 Euro. „Da freuen wir uns und das ist nett.“Aber eben auch nicht mehr, wenn die Verluste im Millionenbereich liegen. Auch der Zuspruch von der Wirtschaftsministerin kann Lang nur eingeschränkt trösten. Sie habe ihre Zweifel, inwiefern der Besuch nachhaltige Veränderungen befördert.
Um die Zulieferindustrie und Fahrzeughersteller für die Zukunft zu rüsten, hat der Bund ein Förderprogramm in Höhe von zwei Milliarden Euro aufgelegt. Das Förderkonzept ist aktuell in Arbeit. Das Land Baden-Württemberg hat außerdem ein Beratungsangebot installiert, um gerade auch kleine und mittelständische Unternehmen mit den nötigen Kompetenzen für die Transformation auszustatten.
Dabei geht es Hoffmeister-Kraut nicht nur darum, als Autoland einen Ruf zu verlieren. Rund 823 000 Jobs hängen deutschlandweit von der Automobilindustrie ab, davon allein in Baden-Württemberg 470 000. Am Ende geht es um Hunderttausende Existenzen.